Full text: Handbuch des Öffentlichen Rechts. Band III.1.2. Das Staatsrecht des Königreichs Württemberg. (2)

242 Siebenter Abschnitt: Die Selbstverwaltung und ihre Organe. I. Die Gemeinden. § 73. 
meinderath (durch förmlichen Beschluß) ¹) den Gegenstand zu wiederholter Berathung in ge- 
meinschaftlicher, unter Leitung des Ortsvorstehers vorzunehmender Verhandlung beider 
Kollegien bringen, wobei nach absoluter Mehrheit sämmtlicher vertretenen Stimmen darüber 
Beschluß zu fassen ist. Dies muß immer geschehen, wenn es sich um die Erfüllung einer 
Verbindlichkeit der Gemeinde oder einer gesetzlichen Obliegenheit der Gemeindeverwaltung 
handelt. Durch den Beschluß der vereinigten Kollegien wird die Angelegenheit 
endgiltig erledigt, jedoch wird dadurch das Recht und die Pflicht der Aufsichtsbehörde, 
von Amtswegen gegen gesetzwidrige Beschlüsse der Gemeindebehörde einzuschreiten und die 
Gemeinde zur Erfüllung ihrer Verbindlichkeiten — nöthigenfalls zwangsweise — anzu- 
halten, nicht berührt ²). 
Sowohl der Gemeinderath als das Oberamt können übrigens auch in andern 
Fällen, so oft es ihnen räthlich erscheint, den Ausschuß über seine Meinung gutächtlich 
hören ³). 
D. Gemischte Behörden. Diese Behörden sind, sofern sie gemeinsame Aufgaben 
des Staats, der Kirche und der Gemeinde erfüllen, zusammengesetzt aus Mitgliedern 
der Gemeindeverwaltung und aus kirchlichen bezw. staatlichen Beamten. Dahin gehören: 
1. Die Organe für die Verwaltung und Beaufsichtigung der 
örtlichen Stiftungen. 
In Folge der ausschließlichen Geltung der evangelischen Konfession im ehemaligen Her- 
zogthum Württemberg unterschied das Gesetz früher nicht zwischen der politischen und kirchlichen 
Gemeinde. Es gab vielmehr nur eine Gemeinde, welche unter Mitwirkung der Ortsgeist- 
lichen die kommunalen wie die kirchlichen Aufgaben erfüllte. Aehnlich lagen die Verhältnisse 
in den im Anfang dieses Jahrhunderts neu erworbenen Gebietstheilen, welche — von einigen 
paritätischen Reichsstädten abgesehen — auf Grund der Normen des westphälischen Friedens aus- 
schließlich entweder der evangelischen oder der katholischen Konfession angehört hatten; nur mit 
dem Unterschied, daß in den katholischen Landestheilen das Vermögen der Kirche und die den 
kirchlichen Zwecken dienenden Stiftungen nach den Vorschriften des canon. Rechtes sich meistens in 
rein kirchlicher Verwaltung befunden hatten. — Als dann das Königreich Württemberg seit 1806 
ein paritätischer Staat geworden, wirkten zunächst die bisherigen thatsächlichen Verhältnisse fort, 
da eine Mischung der Konfessionen — namentlich unter der bis zum Jahr 1849 geltenden Ge- 
setzgebung — nur ganz allmählig sich vollzog. Das Verwaltungsedikt vom 1. März 1822, 
welches bis auf die neueste Zeit für die Verwaltung der weltlichen wie der kirchlichen Stiftungen 
ausschließlich maßgebend war, hatte daher für das ganze Land an dem altwürttembergischen 
Grundsatz festgehalten, daß die Kirchengemeinde in der Hauptsache mit der bürgerlichen Gemeinde 
zusammenfalle. Es gab daher keine besondere Organisation der kirchlichen neben der politischen 
Gemeinde. Die Stiftungen für Kirchen-, Schul- und Armenbedürfnisse wurden vielmehr durch 
eine gemischte, aus den Ortsgeistlichen und dem Gemeinderath zusammengesetzte Behörde, den 
Stiftungsrath verwaltet. Während einerseits die verschiedenartigsten Leistungen weltlicher Natur 
auf die Stiftungspflege (den Heiligen) übernommen wurden, hatte andererseits die bürgerliche 
Gemeinde mit ihrer Kasse subsidiär einzutreten, wenn die Einkünfte des kirchlichen Vermögens 
für die aus demselben zu bestreitenden Ausgaben nicht hinreichten. 
Mit der durch die Reichsgesetzgebung neuerdings beschleunigten Vermischung der Konfessio- 
nen konnte nun aber diese Einheit der kirchlichen und bürgerlichen Gemeinde nicht mehr aufrecht 
erhalten werden. Der erste Schritt zur Trennung derselben wurde nothwendig durch das Bundes- 
gesetz über den Unterstützungswohnsitz vom 6. Juni 1870, indem dieses die Scheidung der Ge- 
meindearmenpflege von der kirchlichen Armenpflege und damit die Scheidung der bis dahin in 
den Stiftungspflegen gemeinsam verwalteten Armenstiftungen in kirchliche und kommunale und 
die Ueberweisung der letzteren in die Verwaltung der Organe der bürgerlichen Armenpflege — 
durch das Landesgesetz vom 17. April 1873 (und die Novelle zu diesem Gesetz vom 2. Juli 1889) 
herbeiführte und die Einsetzung einer besonderen Ortsarmenbehörde zur Folge hatte. Die voll- 
ständige Scheidung der kirchlichen von der bürgerlichen Gemeinde wurde dann durch die beiden 
 
1) Ist die Beiziehung erfolgt, so kann sie nicht nachträglich vom Gemeinderath rückgängig 
gemacht werden. Ueber die Form der Verhandlung u. Abstimmung f. § 8 der Vollz.Verf. zur 
Verw.Nov. v. 1891 u. über das Stimmrecht des Bürgerausschußobmanns Art. 10⁴ der letzteren. 
2) Art. 11 der Verw.Acv. v. 1891. 
3) A. a. O. § 57 u. Art. 12 der Nov. v. 1891.
	        
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