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Achter Abschnitt.
Die Landesverwaltung.
I. Kapitel.
Die Verwaltung der Rechtspflege.
§ 79. I. Die Gerichtsbarkeit und die oberste Landesjustizverwaltung. Die Justiz-
hoheit des Staates umfaßt das ganze Gebiet der Gerichtsbarkeit; doch besteht ein wesent-
licher Unterschied zwischen der ordentlichen streitigen Gerichtsbarkeit in bürgerlichen und in
Strafsachen einer — und der gesammten übrigen reichsgesetzlich nicht normirten Gerichts-
barkeit andererseits.
Die ordentliche streitige Gerichtsbarkeit!) wird zwar vom Staate kraft eigenen
Rechts und in eigenem Namen ausgeübt, die Staatsgewalt verwaltet dieselbe aber nur als
Glied eines größeren Ganzen, d. h. in der Unterordnung unter das Reich. Diese Gerichts-
barkeit ist deßhalb auch nicht an die Grenzen des Staates gebunden, sondern ihr Herr-
schaftsgebiet ist — nach Maßgabe der reichsgesetzlichen Kompetenzbestimmungen — das
ganze Bundesgebiet; ihre oberste Spitze liegt nicht im Staate Württemberg, sondern im
Reichsgerichte. Der Staatsgewalt steht dagegen die Selbstverwaltung, d. h. das Recht und
die Pflicht zu, diese Gerichtsbarkeit nach Maßgabe der reichsgesetzlichen Vorschriften zu
handhaben. Das Reich hat in dieser Beziehung nur ein Recht der Ueberwachung, welches
der Reichskanzler durch das ihm unterstellte Reichsjustizamt dem württemb. Justizmini-
sterium gegenüber als dem Organe der obersten Landesjustizverwaltung und zwar in den-
jenigen Schranken ausübt, welche der Thätigkeit der letzteren durch die Unabhängigkeit der
Gerichte gezogen sind. Ergeben sich hierbei Anstände, so entscheidet gemäß Art. 7 Z. 3
der R.V. der Bundesrath.
Den Gegensatz hierzu bildet die ganze übrige Gerichtsbarkeit, welche der Gesetz-
gebung und Aufsicht des Reiches nicht unterliegt. Diese ist der freien Autonomie und
Verwaltung des Staates — wenn auch innerhalb der allgemeinen Schranken der Reichs-
gesetzgebung — überlassen.
In Beziehung auf beide Arten von Gerichtsbarkeit steht die gesammte Justizverwal-
tung unter der obersten Aufsicht des Justizministeriums. Diese Aussicht ist jedoch
gegenüber der Rechtsprechung der Gerichte im weitesten Sinne, also namentlich auch gegen-
über den im Instanzenzuge erfolgenden Entscheidungen in Sachen der freiwilligen Gerichts-
barkeit nur eine formelle. Sie gewährt nicht die Befugniß, den Gerichten in Beziehung
auf ihre Entscheidungen oder auf die Auslegung der Gesetze Vorschriften zu ertheilen, da
nach § 1 des R..V.G. die richterliche Gewalt durch unabhängige, nur dem Gesetze
1) S. hierüber Laband, R. St. R. II 335f.