8 108. Das Rechtsverhältniß zwischen Staat u. Kirche. 375
Gebiete der Gesetzgebung wie der Verordnung wiedergegeben wurde und dieselbe dadurch in den
Stand gesetzt ist, ohne einen Einspruch von dritter Seite fürchten zu müssen, das für den Fall
eines Konfliktes ungenügende Kirchengesetz nach Lage der Umstände zu ergänzen und zu ver—
bessern, während andererseits für die Auslegung des Kirchengesetzes selbst nur dessen Wortlaut
in dem Sinne, in welchem er von den gesetzgebenden Faktoren verabschiedet wurde, nicht der in
der zweideutigen Sprache der Kurie abgefaßte Text der Konvention maßgebend ist.
B. Das geltende Recht.
I. Gemeinsame Normen der Verfassungsurkunde.
§ 108. Jeder der drei 1 in der früheren Reichs= und Bundesgesetzgebung und
hiernach auch in der württ. Verfassungsurkunde anerkannten christlichen Konfessionen ist
verfassungsmäßig neben der freien öffentlichen Religionsübung?) die Eigenschaft
als öffentliche Körperschaft zuerkannt 3). Sie besitzen als solche Vermögensfähigkeit (V. U.
§ 70); außerdem ist ihnen der volle Genuß ihrer Kirchen-, Schul= und Armenfonds
zugesichert. Diese Zusage ist jetzt erst durch die in Folge des Ausf.G. zum U.W. G.
v. 17. April 1873 Art. 11 ff. geregelte Ausscheidung der Stiftungen für Armenzwecke
sowie durch die beiden staatlichen Gesetze betr. die Vertretung der evangelischen Kirchen-
und der katholischen Pfarrgemeinden vom 14. Juni 1887 in Verbindung mit der
G. V.Nov. v. 21. Mai 1891 vollständig verwirklicht worden.
Diesen drei Kirchen steht ferner in Betreff ihrer kirchlichen Angelegenheiten die
Autonomie d. h. die kirchliche Gesetzgebung und das Kirchenregiment durch ihre ver-
fassungsmäßigen Organe zu (V.U. § 71, 75, 78).
Dem König ist jedoch das obersthoheitliche Schutz= und Aufsichtsrecht eingeräumt.
Vermöge desselben sollen die Verordnungen der Kirchengewalt ohne vorgängige Einsicht und
Genehmigung des Staatsoberhauptes weder verkündet noch vollzogen werden. Dieser
Satz hat jedoch für die kath. Kirche nach dem Gesetze v. 30. Jan. 1862, Art. 1 (s. u.)
eine wesentliche Einschränkung erfahren, während für die evangelische Kirche das ganze
Oberaufsichtsrecht, so lange der Regent der evangelischen Konfession angehört, keinen
formellen Ausdruck erlangt (s. u.).
Was die Vermögens-Verhältnisse der evangelischen und katholischen Kirche
insbesondere betrifft, so soll nach § 77 der V. U. die abgesonderte Verwaltung des evan-
gelischen Kirchengutes des vormaligen Herzogthums Württemberg wieder hergestellt
und ebenso für die katholische Kirche nach 8 82 a. a. O. zur Bestreitung derjenigen
kirchlichen Bedürfnisse, für welche keine örtlichen Fonds vorhanden sind oder die vor-
handenen nicht zureichen, ein eigener diesen Zwecken ausschließlich gewidmeter Kirchen-
fonds ausgeschieden werden"). Zur Ausführung dieser Vorschriften ist es jedoch bisher
nicht gekommen?). Dagegen bestreitet der Staat aus seinen Mitteln einen erheblichen
Theil des Aufwandes beider Kirchen, welcher im Etatsgesetze mit den Ständen verabschiedet
wird. Insbesondere hat der Staat den zum Kirchendienste untauglich gewordenen Kirchen-
1) Im Jahre 1823 wurden die wenigen reformirten Kirchengemeinden des Landes ohne
Aenderung ihres Bekenntnisses mit der luth. Landeskirche vereinigt, d. h. in den Organismus und
den Mitgenuß der Anstalten dieser Kirche aufgenommen. Seitdem hat sich wieder in Stuttgart
und Cannstadt eine nicht unirte reformirte Gemeinde gebildet, welche unmittelbar unter der Aufsicht
g Aultnsmmisteriums steht; vgl. P. Stälin, württemberg. Jahrb. 1868 S. 228 ff.; auch Mohl, II.
. 457 N. 2.
2) Vgl. Art. 1 des Ges. v. 31. Dez. 1861.
3) Vgl. hierüber auch Hinschius, B. I dieses Hdb. S. 249 ff.
4) Eine ähnliche Zusicherung bezüglich der reformirten Kirche enthält der § 83 der V. U.
5) Ueber die Hindernisse s. Mohl, II S. 470. Riecke, Verf. S. 226 f. u. „das evang.
Kirchengut“, Beil. d. württemberg. St. Anz. 1876, Nr. 7, 9 u. 11.