30 Dritter Abschnitt: Die natürlichen Grundlagen des Staats. II. Die Staatsangehörigen. § 7.
Außerkraftsetzung der Reichsgesetze ist aber schon durch Art. 2 der R.V. ausgeschlossen; denn wenn
ein Reichsgesetz nicht durch Landesgesetz beseitigt werden kann, so kann es noch viel weniger durch
eine K. Verordnung außer Wirksamkeit gesetzt werden. Für Württemberg hat also der Eintritt
in das Reich die wichtige Folge gehabt, daß der § 89 der württ. V. U., wenigstens soweit es
sich um die unter dem Schutz des Reichsgesetzgebung stehenden Rechtsverhältnisse handelt, seine
Geltung verloren hat. Abweichender Ansicht ist zwar Sarwey, I 279 N. 6, indem er eine
Uebertragung der ordentlichen Strafgerichtsbarkeit an andere Behörden, namentlich an Militär-
gerichte durch den König auf Grund des § 89 zur Sicherheit des Staats zulassen will; allein diese
Ansicht findet in § 16 des G.V.G. keine Unterstützung, da letzterer sich nur auf das bestehende Recht
über die Erklärung des Kriegszustandes, also auf § 68 der R.V. und auf die neben derselben be-
stehende bayerische Gesetzgebung — vgl. jetzt auch bezüglich Elsaß-Lothringen das R.G. v. 30. Mai
1892 — bezieht. Richtig ist nur, daß durch § 30 des R.Pr. G. v. 7. Mai 1874, für Zeiten der
Kriegsgefahr, des Kriegs- oder des Belagerungszustandes die bestehenden besonderen Bestimmungen,
also für Württemberg der § 11 des Pr.G. v. 1817 aufrecht erhalten sind. Der § 2 des B. Paß G.
v. 12. Okt. 1867 dagegen ist lediglich eine Konsequenz aus Art. 2 bezw. 68 der Nordd. B., jetzt
der R.V. Nicht begründet ist auch die Behauptung (Sarwey, I 283 N. 16), daß die von den
Kriegsgerichten im Kriegszustande gegen Militärpersonen gefällten Todesurtheile durch den König
von Württemberg zu bestätigen seien; denn der § 68 der R.V. geht in diesem Punkte dem Art. 10
der Militärkonvention vor.
§ 7. Die sog. Grundrechte ¹).
I. Das Recht und die Pflicht des verfassungsmäßigen Gehorsams. Nach § 21 der V .U.
„haben alle Württemberger gleichen verfassungsmäßigen Gehorsam zu leisten". Diese Pflicht ist jetzt
im deutschen Gesammtstaat identisch mit der allgemeinen Unterthanenpflicht jedes Deutschen gegenüber
der Reichsgewalt und der Staatsgewalt; es ist die Pflicht, den Geboten und Verboten der Reichs-
und der Staatsgewalt, welche in gesetzlicher Weise innerhalb der Zuständigkeit derselben erlassen
werden, Gehorsam zu leisten ²). Die Grenzen dieser Gehorsamspflicht, welche übrigens auch auf Aus-
länder während ihres Aufenthaltes im Lande sich erstreckt, werden durch die Reichsgesetzgebung,
nämlich durch die Vorschriften der Strafgesetze über die Bedingungen des gesetzlich erlaubten Wider-
stands — §§ 110—122, insbes. § 113 des R. St.G. B. — bestimmt. Voraussetzung der Gehorsams-
pflicht ist hiernach nur, daß das den Staat vertretende Organ in rechtmäßiger Ausübung seines
Amtes sich befinde. Ob dies der Fall, ist Thatfrage. Entscheidend ist nur die objektive Gesetz-
mäßigkeit, die subjektive Ueberzeugung des Staatsbürgers von der Verfassungs- oder Gesetzwidrig-
keit einer Vorschrift gibt kein Recht zum Widerstand. Gleichgiltig ist auch, ob der Gehorsam für
ein Thun oder für ein Unterlassen gefordert wirds ³). In Beziehung auf die Begründung der Ge-
horsamspflicht durch Gebote und Verbote enthält das württembergische Polizeistrafgesetz vom 27. Dez.
1871 Art. 46 und das Gesetz vom 12. Aug. 1879 betreffend die Aenderung dieses Gesetzes Art. 2
eine Ausführungsbestimmung zum St.G.B. Hiernach kann ein strafbarer Ungehorsam auch dann
vorliegen, wenn das Gebot oder Verbot nicht direkt in einem Strafgesetz i. w. S. (Art. 51 des
w. Pol. Str. G.) enthalten und durch eine allgemeine Strafandrohung gesichert, sondern der Ungehorsam
nur gegen eine für einen speziellen Fall von einer Behörde ⁴) innerhalb ihrer Zuständigkeit getroffenen
Einzelanordnung gerichtet ist, sofern diese Anordnung ordnungsmäßig d. h. speziell an die einzelne
Person eröffnet worden war ⁵). Darüber, ob diese Voraussetzungen einer giltigen Strafandrohung
vorliegen, entscheidet die Behörde, gegenüber welcher der Ungehorsam verübt worden ist, sofern ihr
gesetzlich überhaupt eine Strafbefugniß zukommt ⁶), andernfalls sind zur Abrügung, wenn es sich um
1) Ueber die Ratur dieser Rechte f. § 6 I.
2) S. Laband in diesem Handbuch II I, S. 31 u. 34, R. St. R. I, S. 131f. Zorn, I S.275f.
3) Alles übrige gehört in das Strafrecht; s. v. Holtzendorff, Handbuch III 115 f., H. Meyer
Strafrecht § 190. Entsch. des R.G. in Straff. Bd. II, S. 412 ff., 425. Bd. III, S. 12. Bd. IV
S. 210, 296. Olshausen Komm. zu § 113 des Str.G. B.
4) Hierunter find die Verwaltungsbehörden ohne Unterschied, nicht nur die Polizeibehörden,
also auch die Gemeindegerichte verstanden; den Gegensatz bilden die ordentlichen Gerichte, deren Be-
fugnisse zur Verhängung von Ordnungsstrafen wegen Ungehorsams durch § 178 des G. V. G. und
Art. 33 des A.G. zu diesen geregelt ist.
5) S. Schicker, württ. Pol. Str. R. 2. Aufl. S. 175.
6) Strafbefugniß besitzen, abgesehen von den ordentlichen Gerichten die Oberämter und die
Forstämter und alle Kollegial- (Zentral- oder Mittel-) Stellen sämmtlicher Departements, ferner
die Ortsvorsteher und die Gemeinderäthe (vgl. auch Art. 11 d. B.S. Lösch.O. v. 7. Juni 1885).