§ 21 Die staatsrechtlichen Befugnisse der Ständeversammlung. 79
württemberg. Gesetzgebungsakte seit 1851 leugnen. Von der Regierung wurde — bisher — stets
an der Rechtsgiltigkeit der Außerkraftsetzung jenes Gesetzes festgehalten, was natürlich nicht ent-
scheidend ist, während andererseits auch die Genehmigung dieses Vorgehens durch spätere Gesetz-
gebungsakte der wieder nach der Verfassung von 1819 zusammengesetzten Ständeversammlung rechtlich
bedeutungslos erscheint, sofern eben die Giltigkeit dieser Beschlüsse wie die rechtliche Existenz der
Versammlung selbst bedingt ist durch die giltige Aufhebung des Gesetzes vom 1. Juli 1849. Da
es sich übrigens bei dieser Kontroverse neben der Rechtsfrage auch um die staatsrechtliche Bedeutung
eines thatsächlich bestehenden Zustandes handelt, so genügt es hier, zu konstatiren, daß die ganze
dermalige Funktion der Ersten wie der Zweiten Kammer auf jener einseitigen Königl. Verordnung
vom 6. November 1850 beruht ¹).
4. Um so näher lag seit 1850 das Bedürfniß einer Revision der Vorschriften über die Wahl
der Abgeordneten der Städte und Oberamtsbezirke, wenn auch durch die wieder in Thätigkeit getre-
tenen Faktoren der Verfassungsurkunde von 1819. Allein erst das Jahr 1866 mit seinen Folgen brachte
diesen wichtigsten Theil des württemberg. Verfassungsrechts in Fluß. Das Wahlgesetz (B) vom
26. März 1868 mit der Novelle vom 16. Juni 1882 führte nun im Anschluß an die Gesetzgebung
des Norddeutschen Bundes und des Deutschen Reiches für den durch die Volkswahl berufenen Theil
der Abgeordnetenkammer das allgemeine Stimmrecht ein; die Verfassungsgesetze vom 26. März 1868
(A) und vom 23. Juni 1874 und 1. Juli 1876 dagegen brachten, wiederum nach dem Vorgange
der Reichsgesetzgebung, das der Ständeversammlung bisher fehlende Recht der Initiative in der
Gesetzgebung, der Wahl der Präsidenten (wenigstens für die Zweite Kammer), der Regelung der
eigenen Geschäftsordnung, erweiterten Schutz der Ständemitglieder gegen Untersuchung und Haft,
Unverantwortlichkeit für Aeußerungen und Abstimmungen, Befreiung der gewählten Beamten vom
Urlaub zum Eintritt in die Ständeversammlung, endlich — durch theilweise Beseitigung des Ge-
heimen Raths — ein wirklich verantwortliches Staatsministerium. Die Zusammensetzung der Stände-
versammlung blieb aber bis zur Gegenwart unverändert; (s. auch oben S. 11 N. 3).
A. Die staatsrechtlichen Befugnisse der Ständeversammlung.
§ 21. Gegenüber dem König als Träger der gesammten Staatsgewalt sind die
Stände nicht zu einer Mitregierung oder zu einer Theilnahme an der Staatsgewalt selbst
berufen, ihre Thätigkeit ist vielmehr prinzipiell nur eine negative, — sie bilden eine
Schranke für die Ausübung der Staatsgewalt in ihren verschiedenen möglichen Richtungen.
Formell tritt diese Thätigkeit in die Erscheinung theils als eine, gewissen Akten der Staats-
gewalt vorangehende und sie bedingende Zustimmung, theils als Genehmigung eines bereits
in Wirksamkeit getretenen Willensaktes der Staatsgewalt, namentlich aber als eine, die
gesammte Thätigkeit der letzteren kontrollirende Funktion. Die V. U. § 124 spricht dies in
dem allgemeinen Satze aus, daß die Stände berufen sind, die Rechte des Landes in dem
durch die Verfassung bestimmten Verhältnisse zum Regenten geltend zu machen, insbesondere
bei Ausübung der Gesetzgebungsgewalt durch ihre Einwilligung mitzuwirken, in Beziehung
auf Mängel oder Mißbräuche bei der Staatsverwaltung ihre Wünsche, Vorstellungen und
Beschwerden dem Könige vorzutragen, auch wegen verfassungswidriger Handlungen Klage
anzustellen ꝛc.
Im Einzelnen ist zu unterscheiden:
I. Das Recht der Mitwirkung bei der Gesetzgebung. Ohne vorgängige Zustimmung
der Stände kann kein Gesetz gegeben, aufgehoben, abgeändert oder authentisch erläutert werden.
(V. U. § 88.) S. hierüber unten § 54.
— außerdem die Verh. beider Kammern von 1851 und 1852; dann die Verh. der K. d. Abg.
vom. 4. März 1864 und vom 18. Okt. 1866, in welcher letzteren Sitzung der Antrag angenommen
wurde, „eine Beschlußfassung über die Giltigkeit des Gesetzes vom 1. Juli 1849 vorerst abzu-
lehnen. Die Giltigkeit der Verordnung dürfte sich übrigens aus dem in § 55 Ausgeführten
ergeben.
1) Wenn in neuerer Zeit behauptet worden ist, die ganze Frage habe seit dem Wahlgesetze
vom 26. März 1868 „balle praktifsche Bedeutung verloren“, so entspricht dies dem wirklichen Sach-
verhalt nicht, denn es handelt sich ja hierbei in erster Linie nicht um den Wahlmodus, sondern um
die rechtliche Stellung der Ersten Kammer und der sog. Privilegirten in der Zweiten Kammer 2c.