54 G. Anschütz.
hinschleppendes Streitverhältnis, dessen Erledigung durch klare Auseinandersetzung der Gegner
freilich auf anderen Wegen als auf denen, welche das Völkerrecht souveräner Staaten zur Ver-
fügung stellt, nicht erfolgen konnte. Insbesondere konnte der Deutsche Bund in der schleswig-
holsteinischen Angelegenheit ein Richteramt oder auch nur ein Schiedsrichteramt nicht bean-
spruchen, denn nicht sein Recht, das Bundesrecht, stard unter Streit; auch handelte es si
nicht um eine Streitigkeit zwischen zwei Bundesstaaten, für deren Erledigung das Austrägal-
verfahren der Bundes- und Schlußakte der rechte Weg gewesen wäre. Preußen und Osterreich
hatten nicht als deutsche Bundesstaaten, sondern als europäische Großmächte, „den
Bundestag in seine Ohnmacht verweisend“, das nationale Werk der Losreißung Schleswig-
Holsteins von Dänemark vollendet, mit dem Besiegten den Wiener Frieden und sodann unter
sich die Gasteiner Konvention geschlossen, überall ohne die Mitwirkung des Bundes zu begehren
und ohne dieser Mitwirkung zu bedürfen. Der Kondominat Preußens und Osterreichs unterlag
also der Kognition des Bundestages nicht, ebensowenig wie als König von Ungarn war der
Kaiser von Osterreich als Mitinhaber der Staatsgewalt über Holstein Bundesmitglied, während
Schleswig überhaupt nicht zum Deutschen Bunde gehörte. Dem allen ungeachtet, tat am
1. Juni 1866 Osterreich den folgenschweren Schritt, die schleswig-holsteinische Sache der Ent-
scheidung des Bundestages anheimzustellen, mit dem (einige Tage später gestellten) Antrage,
die Mobilmachung sämtlicher außerpreußischen Bundesarmeekorps gegen Preußen zu beschließen.
Es setzte sich damit ins Unrecht, dem Gegner einen Kriegsgrund liefermd, wie ihn dieser sich kaum
besser und fehlerfreier wünschen konnte — denn bei der absoluten Unzuständigkeit des Bundes
war das Begehren der Bundeshilfe gegen Preußen nichts anderes als Anstiftung neutraler
Staaten zu völkerrechtswidriger Einmischung in den Streit Dritter. Der österreichische Antrag
vom 1. Juni 1866 war sonach gleichbedeutend mit der Kriegserklärung an Preußen; er bedeutete
weiterhin, den Fall seiner Annahme vorausgesetzt, den Untergang des Deutschen Bundes, der
ja, wie jedes andere völkerrechtliche Vertragsverhältnis, durch den Ausbruch des Krieges zwischen
seinen Mitgliedern aufgelöst werden mußte. So war Krieg in Sicht, das Ende des alten Deutsch-
lands gewiß und Bahn frei für den, der das neue schaffen wollte. Klar treten die Umrisse dieser
Neuschöpfung hervor in den „Grundzügen zu einer neuen Bundesverfas-
sung“, welche Preußen am 10. Juni 1866 allen deutschen Regierungen, außer Osterreich, vor-
legte, mit der Aufforderung, „sich über die Frage schlüssig machen zu wollen, ob sie eventuell,
wenn in der Zwischenzeit bei der drohenden Kriegsgefahr die bisherigen Bundesverhältnisse
sich lösen sollten, einem auf der Basis dieser Modifikationen des alten Bundesvertrages neu
zu errichtenden Bunde beizutreten geneigt sein würden“.
Die „Grundzüge“ vom 10. Juni 1866 (abgedruckt bei Binding, Staatsgrundgesetze,
1. Heft, Größere Ausgabe, 6. Aufl. (1912), S. 73 ff.) sind als der erste artikulierte Entwurf der
nachmaligen Norddeutschen Bundes- und damit der Reichsverfassung anzusehen. Ihr wesent-
lichster Inhalt ist der: das Gebiet des neuen Bundes umfaßt das des alten, ausgenommen Oster-
reich und die niederländischen Landesteile. Die Bundesgewalt hat alle völkerrechtlichen
Souveränetätsrechte, insbesondere das Recht über Krieg und Frieden, der Verträge und Bünd-
nisse und des gesandtschaftlichen Verkehrs. Ihr ist ferner in einem weiten Umkreise von An-
gelegenheiten (Art. VI der „Grundzüge“, der mit seinen elf Gruppen der Bundeskompetenz
das Urbild des Art. 4 der heutigen Reichsverfassung — s. unten S. 70, Anm. 1 darstellt) das Recht
der Gesetzgebung und Oberaufsicht zugewiesen. Die gesetzgebende Gewalt des Bundes wird
ausgeübt durch den umzugestaltenden Bundestag in Gemeinschaft mit einer aus direkten und
allgemeinen Wahlen des ganzen Volkes nach Maßgabe des Reichswahlgesetzes vom 12. April
1849 (oben S. 49) hervorgehenden Nationalvertretung. Die Kriegsmarine des Bundes ist
eine einheitliche unter preußischem Oberbefehl. Die Landmacht wird in zwei Bundesheere
eingeteilt, die Nordarmee und die Südarmee; in Krieg und Frieden ist der König von Preußen
Bundesoberfeldherr der Nordarmee, der König von Bayern Bundesoberfeldherr der Süd-
armee. Die Beziehungen des Bundes zu Osterreich sollen nach Vereinbarung über dieselben
mit der zu berufenden Nationalvertretung durch besondere Verträge geregelt werden.
Andere Vorrechte Preußens als der Oberbefehl über die Kriegsmgrine und die „Nord-
armee“ sind in den Grundzügen nicht vorgesehen; insbesondere kennen die letzteren ein preußi-
sches „Präsidium“ im Sinne der norddeutschen Bundes= und der Reichsverfassung noch nicht.