Die Arbeiterversicherung 351
Produktions= und Einkommensverhältnisse großenteils in eine be—
drängte Lage geraten sind.
Einen bedeutenden Teil unserer neuzeitlichen sozialen Gesetz—
gebung, die sog. Arbeiterschutzgesetzgebung, werden wir
noch später näher kennen lernen (s. Nr. 1211). Hier wollen wir einen
Einblick tun in die Bedeutung und Gestaltung unserer Arbeiter-
versicherung, welche sich nicht nur auf die industriellen, sondern
auch auf die übrigen Lohnarbeiter erstreckt.
Die für ihren Lebensunterhalt auf den täglichen Arbeitsverdienst
angewiesene Bevölkerung vermag nur verhältnismäßig selten für die
wirtschaftliche Sicherstellung ihrer Zukunft zu sorgen, weshalb sie
den Wechselfällen des Lebens, wie Krankheit, Unfälle, Alter und Ar-
beitslosigkeit sie mit sich bringen, meist wehrlos preisgegeben ist.
Unsere Reichsgesetzgebung hat es sich daher zur Aufgabe gemacht, für
die Zukunft dieser Bevölkerungsklassen, soweit möglich, zu sorgen im
Wege einer zwangsweisen Versicherung, deren Kosten durch Beiträge
der Arbeitgeber, der Arbeiter und der Reichskasse aufgebracht wer-
den. Diese soziale Reform, welche auch im Auslande ungeteilte An-
erkennung und Bewunderung fand, hat seit ihrem Bestehen zahllosen
Arbeitern ihre Arbeitskraft erhalten und sie wie ihre Familien vor
Not und Entbehrung geschützt. Sie wurde eingeleitet durch eine
Botschaft, welche Kaiser Wilhelm I. am 17. November 1881 dem
Reichstage zugehen ließ. Zurzeit die Kranken-, Unfall-, Invaliden=
und Altersversicherung umfassend, wird diese soziale Versicherungs-
gesetzgebung voraussichtlich in einer Witwen= und Waisenversorgung,
sowie in der Versicherung gegen Arbeitslosigkeit (sofern letztere sich
als praktisch ausführbar erweist) ihren Abschluß finden.
I. Die Krankenversicherung.
Das erste der drei großen Versicherungsgesetze war das Kran-
kenversicherungsgesetz vom Jahre 1883; es hat inzwischen
wesentliche Umgestaltungen erfahren.
In dieser denkwürdigen Kaiserlichen Botschaft heißt es:
„Wir halten es für Unsere Kaiserliche Pflicht, dem Reichstage die Förderung
des Wohles der Arbeiter von neuem ans Herz zu legen, und würden Wir mit
Um so größerer Befriedigung auf alle Erfolge, mit denen Gott unsere Re-
gierung sichtlich gesegnet hat, zurückblicken, wenn es Uns gelänge, dereinst
das Bewußtsein mitzunehmen, dem Vaterlande neue und dauernde Bürg-
schaften seines inneren Friedens und den Hilfsbedürftigen größere Sicher-
—5 und Ergiebigkeit des Beistandes, auf den sie Anspruch haben, zu hinter-
assen.“"
Allein im Jahre 1903 wurden aufgewendet für die Krankenversicherung
rund 200 Millionen, für die Unfallversicherung 117 Millionen, für die In-
validen= und Altersversicherung 131 Millionen Mark, zusammen also rund
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