Die rechtliche Natur des Reichs 17
schen Staaten (Bayern, Württemberg, Baden und Südhessen) durch
die im November 1870 geschlossenen Verträge diesem Bunde bei—
traten. Der Inhalt dieser Verträge wurde sodann in dem ersten
und wichtigsten deutschen Reichsgesetze, der Verfassung des
Deutschen Reichs, welche vom 16. April 1871 datiert, zu—
sammengefaßt. Damit wurde die Reichsverfassung ihrer ursprüng—
lich nur vertragsmäßigen Grundlage entrückt und auf die Grund—
lage eines in aller Form erlassenen Reichsgesetzes gestellt; sie kann
daher künftighin nur noch durch Reichsgesetz, nicht durch Verträge
der Bundesstaaten abgeändert werden. Neben der Verfassungs-
urkunde sind die erwähnten Bündnisverträge nur noch insoweit von
Bedeutung, als sie für einzelne Staaten besondere Rechte (sog.
Reservatrechte) festgesetzt haben.
2. Das Deutsche Reich, in der Verfassungsurkunde selbst
bezeichnet als „ein ewiger Bund zum Schutze des Bundesgebietes
und des innerhalb desselben gültigen Rechts, sowie zur Pflege der
Wohlfahrt des deutschen Volkes“, bildet im Gegensatz zu dem früheren
„Deutschen Bunde“ nicht einen Staatenbund, sondern einen
Bundesstaat (s. Nr. 20); denn neben und über den Einzelstaaten
steht das Reich als selbständiger Staat, als eine von den Einzelstaaten
losgelöste Rechtspersönlichkeit mit eigenen Organen (Kaiser, Bundes-
rat, Reichstag), mit eigenen Behörden, Beamten und Einrichtungen
(Reichskanzler, Reichsämter, Reichsbeamte, Flotte, Reichsgericht usw.),
mit einer eigenen Gesetzgebung, welche alle Reichsangehörigen un-
mittelbar verpflichtet, und mit eigenen Einnahmen und Ausgaben.
3. Das Deutsche Reich zählt endlich zu den konstitutionel-
len Staaten (s. Nr. 14), weil das Deutsche Volk durch seine Ver-
treter im Reichstag an der Gesetzgebung teilnimmt.
* Zu diesen Reservatrechten gehören besonders die Rechte
Bayerns und Württembergs hinsichtlich des Post= und Telegraphen-
wesens und des Heerwesens, sowie die Ausnahmestellung der süddeutschen
Staaten bezüglich der Biersteuer. Diese Rechte können auch im Wege der
Reichsgesetzgebung nur mit Zustimmung des berechtigten Staates auf-
gehoben werden.
Die jetzige Gestaltung des Reichs verbürgt einerseits eine dauernde
und feste Vereinigung aller deutschen Stämme, wird aber anderseits auch
der geschichtlichen Entwicklung und dem Selbständigkeitsdrange dieser
Stämme gerecht. Zugleich vermeidet sie die Gefahren, welche einem großen
Staate aus einer allzu starken Zentralisation stets erwachsen. Zwar nimmt
naturgemäß die Reichshauptstadt Berlin im Reiche eine besonders bedeutende
Stellung ein; aber daneben bilden eine ganze Reihe von Städten Mittel-
punkte des geistigen und wirtschaftlichen Verkehrs, in denen ein un-
gleich frischeres Leben pulsiert, als z. B. in den größten französischen Pro-
vinzstädten.
Glock-Schiedermair, Bürgerkunde. 2
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