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30 Das Staatsrecht des Reichs
jährlich Rechnung über die Verwendung der Reichs-
einnahmen zu fordern; er erteilt ihm hierfür Entlastung
(Decharge), wenn er diese Verwendung, als dem Voranschlag ent-
sprechend geschehen, billigt.
Der Reichstag ist endlich befugt, die Reichsregierung (den Bun-
desrat oder den Reichskanzler) über Gegenstände aller Art, insbeson-
dere über ihre Beurteilung der öffentlichen Zustände und über ihre
Absichten zuinterpellieren, d. h. zu befragen, und sog. Peti-
tionen, d. h. Gesuche, die an den Reichstag von irgend welcher
Seite gerichtet werden, dem Bundesrat oder Reichskanzler zu über-
weisen.
2. Wahlrecht und Wählbarkeit.z=
Das sog. aktive Wahlrecht, d. h. das Recht zum Reichs-
tag einen Abgeordneten zu wählen, steht, ohne Unterschied des Be-
sitzes, der Steuerklasse, der Bildung oder des Berufs jedem männ-
lichen deutschen Reichsangehörigen zu, welcher das 25. Lebensjahr
vollendet hat. Das Stimmrecht ist also ein allgemeines;
es ist ferner ein gleiches, weil jedermann, hoch oder niedrig, arm
oder reich, nur eine Stimme hat, und es ist ein direktes, weil
der Abgeordnete unmittelbar (nicht durch Wahlmänner, s. Nr. 25)
gewählt wird. Nicht berechtigt zu wählen sind Personen,
welche unter Vormundschaft oder Pflegschaft stehen (z. B. wegen
Geisteskrankheit, Trunksucht oder Verschwendung), oder welche sich
im Konkurse befinden oder öffentliche Armenunterstützung beziehen
oder im letzten Jahre bezogen haben oder endlich solche, denen
durch die Strafgerichte die bürgerlichen Ehrenrechte (s. Nr. 228) ent-
zogen sind. Um von der Armee jedes politische Parteigetriebe fern-
zuhalten, ist ferner bestimmt, daß die zum aktiven Heere gehörigen
Militärpersonen (Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften) nicht
wählen dürfen; Militärbeamte gehören hierzu nicht.
Das sog. passive Wahlrecht, d. h. die Fähigkeit, als
Reichstagsabgeordneter gewählt zu werden, steht jedem zu, welcher
nach obigem aktiv wahlberechtigt ist, jedoch mit der Erweiterung, daß
auch aktive Militärpersonen gewählt werden können. Der zu Wäh-
lende muß aber seit mindestens einem Jahr die deutsche Reichsange-
hörigkeit besitzen.
Die Ausübung des aktiven Wahlrechts ist vom Gesetz dadurch
geschützt, daß seine gewaltsame Verhinderung mit strenger gericht-
* Die Bestimmungen über das Wahlrecht und die Wählbarkeit sind
nicht in der Reichsverfassung, sondern in einem besonderen Wahlgesetze (vom
31. Mai 1869) enthalten.