Der Reichstag 33
Jahren gewählt werden, hat nicht etwa seinen Wahlkreis oder
seine Wähler, sondern die Interessen des gesamten deutschen Volkes
zu vertreten. Die Abgeordneten besitzen also kein sog. impera-
tives Mandat,, d. h. sie sind an die Aufträge und Instruktionen
ihrer Wähler nicht gebunden.
Das Amt der Abgeordneten ist ein unbesoldetes Ehren-
amt; doch erhalten sie nunmehr (Gesetz vom Jahre 1906) eine Ent-
schädigung für den durch Ausübung ihres Amtes verursachten Auf-
wand.3' Auch haben sie während der Sitzungsperiode, sowie 8 Tage
vorher und nachher freie Eisenbahnfahrt auf allen deutschen Haupt-
und Nebeneisenbahnen.
Die Abgeordneten haben im Reichstage volle Rede= und Ab-
stimmungsfreiheit. Sie können wegen ihrer Abstimmung
oder wegen der im Reichstage in Ausübung ihres Amtes getanen
Aeußerungen in keiner Weise zur Verantwortung gezogen werden.=
Ferner ist die ungehinderte Ausübung ihres Amtes dadurch ge-
sichert, daß kein Reichstagsmitglied während der Sitzungsperiode
ohne Genehmigung des Reichstags wegen einer strafbaren Handlung
verhaftet oder zur Untersuchung gezogen werden darf, es sei denn,
daß er auf frischer Tat oder im Laufe des nächsten Tages ergriffen
wird. Ebensowenig darf ein wegen Schulden vergeblich ausgepfän-
detes Mitglied zur Erzwingung des Offenbarungseides (s. Nr. 637)
ohne Genehmigung des Reichstages verhaftet werden. Auch wird auf
Verlangen des Reichstags jedes bei Beginn der Sitzungsperiode an-
hängige Strafverfahren gegen ein Mitglied und jede Untersuchungs-
oder Zivilhaft während der Sitzungsperiode aufgehoben, nicht aber
eine rechtskräftig erkannte Strafhaft.
Ein Abgeordneter, der während Ausübung seines Mandats als
unmittelbarer Staatsbeamter angestellt oder als bereits angestellter
Beamter befördert wird, könnte hierdurch in den Augen seiner Wäh-
ler gegenüber der Regierung seine Unabhängigkeit verlieren. Die
Verfassung bestimmt daher, daß das Mandat eines solchen Abgeord-
neten durch diese Anstellung oder Beförderung erlischt; doch kann
er bei der alsdann vorzunehmenden Ersatzwahl aufs neue gewählt
werden.
* Die Entschädigung beträgt 3000 M. für jede Sitzungsperiode; doch
kommen hiervon je 20 M. für jede versäumte Plenarsitzung in Abzug.
* Ferner sind wahrheitsgetreue Berichte der Zeitun-
gen über die im Reichstage oder in den Landtagen gehaltenen Reden der
Abgeordneten von jeder Verantwortlichkeit frei. Wenn z. B. die Aeußerung
eines Abgeordneten an sich auch den Tatbestand der Beleidigung enthielte,
so darf der Abdruck dieser Aeußerung im Sitzungsbericht einer Zeitung doch
nicht als Verbreitung einer Beleidigung bestraft werden.
Glock-Schiedermair, Bürgerkunde. 3
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