Full text: Bürgerkunde.

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74 Die Gerichtsverfassung 
2. Die Stellung und Vorbildung der Richter. 
· „Die richterliche Gewalt wird durch unabhän- 
gige, nur dem Gesetze unterworfene Gerichte aus- 
ge übt.“ Dieser Satz, mit welchem das die Verfassung der Gerichte 
im ganzen Reich einheitlich regelnde Gerichtsverfassungs- 
gesetz beginnt, enthält eine der wichtigsten Errungenschaften unseres 
Volkes; denn die Unabhängigkeit der Gerichte nach oben 
wie nach unten bildet zu allen Zeiten den besten Schutz der Staats- 
bürger und ihrer Rechte. 
Gegenüber der Regierung ist die Unabhängigkeit der Richter 
dadurch sichergestellt, daß ihre Ernennung (durch den Landesherrn, 
beim Reichsgericht durch den Kaiser) auf Lebenszeit erfolgt. Sie 
können wider ihren Willen weder versetzt noch ihres Amtes enthoben, 
noch in den Ruhestand versetzt werden, es sei denn, daß Verände- 
rungen in der Organisation der Gerichte oder der Gerichtsbezirke 
eine solche Maßregel erfordern oder daß durch richterliche Entschei- 
dung aus gesetzlichen Gründen (insbesondere im Disziplinarverfahren 
wegen schwerer Verfehlungen, s. Nr. 115 u. 201) darauf erkannt 
wird. Eine Gewähr für die Unparteilichkeit und Gründlichkeit der 
Rechtsprechung liegt ferner darin, daß jede Rechtssache in der Regel 
nacheinander vor verschiedene, einander übergeordnete Gerichte (In- 
stanzen) gebracht werden kann, und daß die Gerichtsverhandlungen, 
welche der Urteilsfällung vorangehen, öffentlich sind. Die Oeffentlich- 
keit kann nur ausgeschlossen werden, wenn sie mit Rücksicht auf die 
besondere Natur des einzelnen Falles eine Gefährdung der Sittlichkeit 
oder der öffentlichen Ordnung besorgen ließe. 
Die Dienstaufsicht über die Gerichte wird durch die 
Justizministerien der verschiedenen Bundesstaaten geübt. Aber auch 
diese obersten Justizverwaltungsbehörden müssen sich jedes Eingriffs 
in die eigentliche richterliche Tätigkeit der Gerichte enthalten. Selbst 
den Landesherrn steht ein solcher Eingriff („Kabinettsjustiz“) 
nicht zu; sie können zwar bereits ausgesprochene Strafen im Gna- 
denwege erlassen, nicht aber besitzen sie (wenigstens nicht in Preußen, 
Bayern und Baden) das Recht, ein anhängiges Strafverfahren zu- 
gunsten des Angeklagten vor dem Urteil niederzuschlagen („Abo- 
litionsrecht'). Die Dienstaufsicht über das Reichsgericht steht 
dem Reichskanzler oder in dessen Vertretung dem Reichsjustizamt zu 
Berlin zu. 
Die Fähigkeit zum Richteramt wird durch Ablegung 
zweier Prüfungen erlangt.: Der ersten dieser Prüfungen muß im 
: In Bayern müssen die Juristen ein mindestens vierjähriges Stu- 
dium an einer deutschen Universität nachweisen, während dieser Zeit die
	        
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