Verfassung. § 61. 139
Kammer angenommen sind, ganz die gleichen Befugnisse zu, wie bei
jedem Gesetze. Die erste Kammer ist also nicht genötigt, einem solchen
Gesetze in einer Fassung zuzustimmen, mit der sie nicht über-
einstimmt, sondern sie kann das Gesetz ohne Einschränkung mit Ver-
besserungsvorschlägen an die zweite Kammer so lange zurückgeben,
bis entweder die zweite Kammer den Entwurf im ganzen ablehnt,
in welchem Fall eine weitere Beschlußfassung der ersten Kammer
darüber ausgeschlossen ist, oder eine Einigung erzielt ist, die bezüg-
lich des Finanzgesetzes — im Gegensatz zu den unter § 60 Ziff 2 Verf
fallenden Vorlagen — allerdings erreicht werden muß, die aber, wie
der Minister Dr. Schenkel in der Sitzung der ersten Kammer
vom 13. Juli 1904, Prot S 291, ausführte, „dann erfolgen
wird unter dem Einfluß der Schwerkraft, welche nach seiner Be-
deutung im Volksleben dem einen oder andern Hause zustehen wird“.
Nur wenn die erste Kammer das Finanzgesetz oder einen der anderen
unter § 60 Ziff 3 fallenden Entwürfe im ganzen ablehnt, wozu sie
aber nie, weder mittelbar noch unmittelbar genötigt ist, da ihr, wie
erwähnt, auch bezüglich aller dieser Gesetze das Amendierungsrecht
ohne Einschränkung zusteht, — a M anscheinend Richard Schmidt
in der Deutsch Jurist Ztg 1905, S 179, nach dem die erste Kammer
auch jetzt noch bezüglich des periodischen Auflagengesetzes und Budgets
„auf die en bloc-Entscheidung beschränkt“ ist, „soweit ihr Beschluß zur
Gesamtabstimmung mit Durchzählung führen kann“, — dann tritt in
Anlehnung an die seitherige, übrigens nie zur Anwendung gekommene
Vorschrift in § 61 das Durchzählungsverfahren gemäß Abs 4 auf Ver-
langen der Regierung oder der zweiten Kammer in der Art ein, daß in
beiden Kammern eine nochmalige Abstimmung über den Entwurf in
der von der zweiten Kammer beschlossenen Fassung stattfindet, womit
der zweiten Kammer auch bezüglich dieser Gesetzentwürfe ein mate-
rielles Vorrecht gewahrt ist. Für die Gültigkeit dieser als Gesamt-
abstimmung bezeichneten nochmaligen Abstimmung, die nur auf Ver-
langen der Regierung oder der zweiten Kammer erfolgt,
verlangt § 74 Verf die Anwesenheit der zur Beschlußfassung
nötigen Mitgliederzahl in jeder Kammer, was sich übrigens
schon aus den allgemeinen Vorschriften in § 71 Abs 1
und § 72 ergibt, vol Bem 1 zu § 74, und weist bei Stimmen-
gleichheit die Entscheidung der Stimme des Präsidenten der zweiten
Kammer zu, dessen Stimme somit doppelt gezählt wird. Vgl Bem 4
zu § 71. — Nähere Bestimmungen über die Durchzählung fehlen wie
seither auch jetzt in der Verfassung; offenbar ist es Sache der Regierung,
auf Grund der Protokolle diese Durchzählung vorzunehmen und
das Ergebnis festzustellen.