Verfassungsurkunde. § 70. 125
als öffentliche Körperschaften anerkannten Kirchen ist nach dem Ge-
setz vom 9. April 1872 betr. die religiösen Dissidenten-
vereine, von einer staatlichen Genehmigung unabhängig (vgl.
§ 27 Anm. 2).
3. In den vollen Genuß ihrer Kirchen-, Schul= und Armen-
fonds sind die evangelische und katholische Kirche erst allmählich
durch die Landesgesetzgebung eingesetzt worden. Im Herzogtum
Württemberg wurden diese Fonds zumeist von der Heiligen= oder
Stiftungspflege verwaltet; da die Kirchengemeinde und die bürger-
liche Gemeinde stets sich deckten, unterblieb eine strenge Unterschei-
dung des Aufwands für die einzelnen verwandten Zwecke, vielfach
wurden auch weitere Lasten auf das örtliche Stiftungsvermögen
übernommen, wogegen sich die Gemeinden für verpflichtet erach-
teten, ein etwaiges kirchliches Defizit auf sich zu nehmen. In dieser
Richtung entwickelte sich ein Gewohnheitsrecht, das in einem Ge-
neralreskript vom 23. Septbr. 1783 eine gesetzliche Bestätigung er-
hielt, in einem Urteil des Verwaltungsgerichtshofs vom 26. April
1880 jedoch nicht mehr als rechtswirksam anerkannt wird 1). Das
Verwaltungsedikt vom 1. März 1822 war noch für das ganze Land
von dem Zusammenfallen der kirchlichen und bürgerlichen Gemeinde
ausgegangen und hatte in § 120 „die in jeder Gemeinde vorhan-
denen Stiftungen für Kirchen-, Schul= und Armenbedürfnisse mit
Einschluß der für diese und ähnliche Zwecke bestimmten Familien-
und Privatstiftungen, wofern die Stifter keine andere Aufsichtsbe-
hörde ernannt haben“ der Verwaltung einer gemischten, aus den
Ortsgeistlichen und dem Gemeinderat zusammengesetzten Behörde,
des Stiftungsrats, unterstellt. Mit der durch die Reichsge-
setzggebung beschleunigten stets wachsenden Vermischung der Kon-
fessionen konnte die rechtliche und wirtschaftliche Einheit der bür-
gerlichen und kirchlichen Gemeinde nicht mehr aufrecht erhalten
werden. Seit 30 Jahren vollzieht sich in Württemberg der Prozeß
der Aussonderung der Bestandteile des örtlichen Stiftungsvermö-
gens nach ihrer Zweckbestimmung und die entsprechende Verteilung
unter die Ortsarmenverbände (Ortsarmenbehörden), die selbständig
) Vgl. Württ. Archiv Bd. 22 S. 20# ff.