Verfassungsurkunde. § 72—73. 129
Veranstaltungen durch Polizeizwang. Das Ausfsichtsrecht des Staats
hat zu dem landesherrlichen Plazet geführt, das im vollen
Umfang des § 72 noch gegenüber der evangelischen Kirche gilt, da-
gegen im Verhältnis zur katholischen Kirche durch den Art. 1 des
Gesetzes vom 30. Januar 1862 eine Einschränkung erfahren hat ½.
§ 73. Verhältais der Kirchendiener zur weltlichen Obrigkeit.
Die Kirchendiener sind in Ansebung ihrer bürgerlichen
Handlungen und Derhältnisse der weltlichen Obrigkeit unter-
worfen.
1. Grundsätzlich sind die Kirchendiener in ihren bürger-
lichen Verhältnissen den übrigen Staatsangehörigen gleichge-
stellt. Von dieser Regel bestehen nur vereinzelte Ausnahmen:
a) Personen des Beurlaubtenstandes, die ein geistliches Amt in
einer mit Korporationsrechten innerhalb des Reichs bestehenden Re-
ligionsgesellschaft bekleiden, werden zum Dienst mit der Waffe nicht
herangezogen, sondern im Falle des Bedürfnisses im Dienst der
Krankenpflege und Seelsorge verwendet (Reichsmilitärgesetz 8 65
Abs. 2, Wehrordnung § 103 Ziff. 7).
b) Kirchendiener sind nicht verpflichtet zur Uebernahme des
Amtes eines Mitglieds des Gemeinderats oder Bürgerausschusses
(Gemeindeangehörigkeitsges. v. 16. Juni 1885, Art. 16 Ziff. 4
auch sind sie ungeeignet zur Ausübung des Schöffen= und Geschwo-
renenamtes (Gerichtsverf.Ges. § 34 Ziff. 7 u. § 85 Abs. 2).
(p) Kirchendiener sind befreit von der Leistung von persönlichen
Gemeindediensten (Gemeindeangehörigkeitsges. Art. 49 lit. b), so-
wie vom Eintritt in die Pflichtfeuerwehr (Landesfeuerlöschordn. v.
7. Juni 1885 Art. 14 Abs. 2).
d) Kirchendiener haben vermöge ihres Amtes Anteil an den
Gemeindenutzungen (Gemeindeangehörigkeitsges. Art. 29).
e) Einzelne Handlungen der Geistlichen sind vom Strafgesetz
als Amtsdelikte mit besonderer Strafe bedroht (Kanzelmißbrauch
1! Wegen der Verkündigung der Beschlüsse des vatikanischen
Konzils von 1870 in Württemberg vgl. Bekanntmachung des Min.
des Kirchen= und Schulwesens vom 20. April 1871 (Rbl. S. 115).
Gbz, Verfassungsurkunde. 9