II. Reichsgesetzgebung. Art. 4. 127
Wie im Eingang VII S. 27 f. hervorgehoben ist, entsprach es dem Willen
der Gründer des Reichs, im wesentlichen nur diejenigen Staatsfunktionen
auf das Reich zu übertragen, die nötig waren, um die militärische Macht
und die wirtschaftliche Einheit des neuen Reichs sicherzustellen. Schon durch
die Gewerbeordnung in ihrer ursprünglichen Gestalt kam ein neues Motiv
in die Gesetzgebung des Reichs; es gab sich die Absicht kund, durch Ein-
griffe in die wirtschaftliche Freiheit im Wege der Gesetzgebung den wirt-
schaftlich Schwachen zu Hülfe zu kommen, mit anderen Worten: in die Gesetz-
gebung des Reichs trat die Sozialpolitik ein, die bestimmt war im weiteren
Verlauf der Reichspolitik eine nahezu alle Zweige der Gesetzgebung be-
herrschende Rolle zu spielen. Unter Sozialpolitik im umfassendsten Sinne
des Wortes kann man die Politik verstehen, die darauf abzielt, dem
schwächeren, unterstützungsbedürftigen Teile der Staatsangehörigen zu helfen
auf Kosten des Staatsganzen und auf Kosten der wirtschaftlich stärkeren
Mitglieder des Staats, und zwar erstreckt sich die Hülfe grundsätzlich auf
jede Art der bestehenden Not, in erster Reihe natürlich auf eine Besserung
der wirtschaftlichen Lage, außerdem aber auch, namentlich soweit jugendliche
und weibliche Personen in Betracht kommen, auf eine Linderung sittlicher
Notstände, auf hygienische Verbesserungen und auf Beförderung des geistigen
Wohls, der Erziehung und des Unterrichts.
Bei den sehr zahlreichen Novellen zur Gewerbeordnung, die zu der
jetzigen Form des Gesetzes geführt haben, ist diese sozialpolitische Tendenz
mehr und mehr zum Durchbruch gekommen, und zwar verfolgte die Sozial-
politik in der Gewerbeordnung zwei Ziele: einmal die Verbesserung des
Arbeitsverhältnisses der gewerblichen Arbeiter jeder Art, der Gesellen, Ge-
hülfen, Lehrlinge und industriellen Arbeiter im engeren Sinne sowie der
Angestellten höherer Art, auf Kosten der wirtschaftlichen Freiheit der Unter-
nehmer und Arbeiter, mit der Absicht, die wirtschaftliche Lage der letzteren
Kategorie aufzubessern, und ferner die Belebung des Handwerkes, des
sogenannten Mittelstandes, dessen Existenz durch die Großindustrie bedroht
wird, mit allen Mitteln, die der moderne Staat zur Erhaltung eines
gewerblichen Standes noch aufbieten kann, ohne die wirtschaftlichen und
gewerblichen Interessen der anderen Berufsstände zu sehr zu beeinträchtigen.
Gerade diese beiden Ziele find durch die Novellen verwirklicht, während
durch die Gewerbeordnung in ihrer ursprünglichen Gestalt mehr, wenn auch
nicht ausschließlich, das Ziel verfolgt war, dem Unternehmertum den freien
Wettbewerb zu verschaffen, es von den Schranken zu befreien, durch die
eine frühere Gesetzgebung die Konkurrenz künstlich eingedämmt hatte, und
ferner die Interessen der Allgemeinheit durch Verbote verschiedener Art
sicherzustellen. Wie Maßnahmen der Sozialpolitik in der Regel nicht
möglich find ohne Eingriffe in die wirtschaftliche Freiheit des einzelnen,
so hat insbesondere die Sozialpolitik der Gewerbeordnung eine starke Be-
schränkung der wirtschaftlichen Freiheit des Unternehmertums zur Folge.
Juristisch ist zwar die Einschränkung der Vertragsfreiheit für die Arbeiter
grundsätzlich keine andere als für die Unternehmer, wirtschaftlich aber fällt
diese Beschränkung fast nur den Arbeitgebern zur Last. Die Unternehmer
sind in der Freiheit, die gewerblichen Betriebe nur nach ihrem Interesse
einzurichten, stark beeinträchtigt und können die ihnen zur Verfügung stehenden
menschlichen Arbeitskräfte, insbesondere die weiblichen und jugendlichen nicht