Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

508 I. 4. Der Befreiungskrieg. 
über, wegen des verspäteten Eintreffens der Nordarmee, sein kleines Heer 
zusammenhalten müssen um einen Ausfall in der Richtung auf Torgau, 
den man noch immer befürchtete, zurückweisen zu können; darum ward 
York erst am Abend auf dem weiten Umwege über Merseburg dem fliehen- 
den Feinde nachgesendet. Also konnte Napoleon noch 90,000 Mann, fast 
durchweg Franzosen, aus der Schlacht retten. Die Deckung des Rück- 
zugs, die Vertheidigung der Stadt überließ er seinen Vasallen, den Rhein- 
bündnern, Polen und Italienern; mochten sie noch einmal für ihn bluten, 
dem Kaiserreich waren sie doch verloren. 
So mußte denn am 19. der Kampf um den Besitz der Stadt selber 
von Neuem begonnen werden. Während Blücher im Norden seine Russen 
gegen das Gerberthor führt und dort zuerst von den Kosaken mit dem 
Ehrennamen Marschall Vorwärts begrüßt wird, bricht Bülow's Corps aus 
den Kohlgärten gegen die Ostseite der Stadt auf. Borstell's Brigade dringt 
in den Park der Milchinsel, Friccius mit der ostpreußischen Landwehr er- 
stürmt das Grimmaische Thor. Noch stehen die Regimenter des Rhein- 
bundes dicht gedrängt auf dem alten Markte, da tönen schon die Flügel- 
hörner der pommerschen Füsiliere die Grimmaische Gasse herunter, da- 
zwischen hinein der donnernde Ruf: Hoch Friedrich Wilhelm! Bald blitzen 
die Bajonette, lärmen die Trommeln und gellen die Querpfeifen auch in 
den andern engen Gassen, die nahe bei dem alten Rathhause münden. 
Alles strömt zum Marktplatze; die Sieger von der Katzbach, von Kulm 
und Dennewitz feiern hier in Gegenwart der gefangenen Feinde jubelnd 
ihr Wiedersehen. Neue stürmische Freudenrufe, als der Czar und der 
König selber einreiten; selbst die Rheinbündner stimmen mit ein; Alle 
fühlen, wie aus Schmach und Gräueln der junge Tag des neuen Deutsch- 
lands leuchtend emporsteigt. Während den König von Preußen sein tapferes 
Heer frohlockend umdrängt, steht nahebei — ein klägliches Bild der alten 
Zeit, die nun zu Grabe geht — Friedrich August von Sachsen entblößten 
Hauptes, mitten im Gewühle an der Thür des Königshauses. Der hat 
während der Stunden des Sturmes ängstlich im Keller gesessen, betrogen 
von den prahlerischen Verheißungen des Protectors noch bis zum letzten 
Augenblicke auf die siegreiche Rückkehr des Unüberwindlichen gehofft. Nun 
würdigen ihn die Sieger keines Blickes, sein eigenes Volk beachtet ihn nicht, 
vor seinen Augen wird seine rothe Garde von Friedrich Wilhelm's Adju- 
tanten Natzmer zur Verfolgung der Franzosen hinweggeführt. Mit naiver 
Freude wie ein Held des Alterthums schreibt Gneisenau die Siegesbot- 
schaft den entfernten Freunden in allen Ecken des Vaterlandes: „Wir 
haben die Nationalrache in langen Zügen genossen. Wir sind arm ge- 
worden, aber reich an kriegerischem Ruhme und stolz auf die wieder- 
errungene Unabhängigkeit.“ 
Dreißigtausend Gefangene fielen den Siegern in die Hände. Die 
Umzingelung der Stadt von den Auen her war bereits nahezu vollendet,
	        
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