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Prüfung fordern, ob die Bewohner eine „nation“ bilden !°. Die
Entwicklung einer Nation ist nach moderner französischer Theorie
eine Tatsache, die sich aus der Gemeinsamkeit der Traditionen, der
Bedürfnisse und Bestrebungen ergibt. Nicht durch einen einzelnen
Akt (den contrat social) ist sie entstanden, sondern in genetischer
Entwicklung *!. — Nun ist es klar, daß alles dies bei den Be-
wohnern des Saargebietes zutrifft, aber ebenso klar, daß die von
der französischen Theorie aufgestellten Merkmale den Begriff der
Nation nicht erfüllen. Denn es fehlt ein wichtiges Element:
die Abgeschlossenheit nach außen hin, so daß
bestimmte Traditionen, Bedürfnisse und Bestrebungen einem be-
stimmten Menschenkreise eigentümlich sind, ihn von
andern unterscheiden. Man trenne mit Zirkel und Lineal
einige Departements Frankreichs oder einige Grafschaften Eng-
lands von dem übrigen Staatsgebiete ab, und man hat in jedem
Teile Gemeinsamkeit der Schicksale, Ueberlieferungen und Bestre-
bungen, aber von der Nation doch nur ein Stück. Denn was
von wirklich bedeutsamen Momenten die Bewohner eines Teils
miteinander verbindet, das verbindet sie auch mit den Bewohnern
der übrigen Teile, und erst das Ganze weist das Erfordernis
der Abgeschlossenheit auf, erst die Bewohner des Ganzen sind
eine Nation. Daß trotzdem die einzelnen Teile Staaten bilden
können, ist allerdings sicher, beweist aber nur, daß man Staats-
volk und Nation nicht gleichsetzen oder, wenn man mit der fran-
zösischen Literatur an der Identität festhalten will, den Begriff
der Nation nicht im historisch-ethnographischen Sinne gebrauchen
darf. Tut man das dennoch, so bietet er keinen Anhaltspunkt
für die Bejahung oder die Verneinung des Staatsbegriffs.
Zur Beantwortung der Frage, ob die Bewohner des Saargebiets
ein organisiertes Staatsvolk ausmachen und ob das Saargebiet selbst
als Staatsgebiet bezeichnet werden kann, wird man also andere
1° EsMEIN a. a. O. p. 35.
1! ESMEIN a. a. O. p. 280, Ducuıt a. a. O. p. 70.