Full text: Gesetzes- und Verordnungs-Blatt für das Großherzogtum Baden. Jahrgang 1912. (44)

XXXI. 273 
In der Geometrie beginnt der Unterricht mit der Betrachtung, Beherrschung, dem Zeichnen 
und Messen von Figuren an möglichst reichem Anschauungsmaterial, insbesondere auch an 
körperlichen Gebilden (Modellen), so daß sich mit der Behandlung ebener Figuren alsbald 
körperliche Raumvorstellungen verknüpfen. Die Zeichnungen sind im Anfang grundsätzlich mit 
den nötigen technischen Hilfsmitteln und nach bestimmten Maßen anzufertigen. 
Um die Selbsttätigkeit der Schüler zu wecken, sind sie anzuleiten, Figuren zu Ornamenten 
einfachster Art zusammenzustellen. Diese Ubungen sollen die Schüler zu freier Hantierung 
mit dem erworbenen Formenschatz bringen. In das Gebiet des rein Zeichnerischen sollen sie 
nicht übergreifen. Dabei soll auch das ästhetische Moment zu seinem Recht kommen. Vielfach 
wird man ferner, besonders wo es sich um Maßverhältnisse handelt, das ästhetische Gefühl aus 
der Sphäre dumpfen Empfindens in die des klaren Verstehens überführen können. Ein wichtiges 
Gebiet dafür ist die Symmetrie, die übrigens auch als formgebendes Prinzip für ungeheure 
Gebiete von Naturgebilden verstanden werden muß. 
Definitionen der Grundgebilde (Punkt, Gerade, Winkel, Fläche) sind nicht zu geben und 
dem Wortlaut nach lernen zu lassen. Dagegen sind die Vorstellungen davon durch allseitige 
und vielfache Betrachtung zur vollen Klarheit zu bringen. 
Die geometrischen Gebilde dürfen nicht als starr und unbeweglich erscheinen. Bewegungen 
verschiedener Art sollen die möglichen Lagen der Gebilde zeigen; die Betrachtung der jeweils 
sich ergebenden Grenzfälle wird besonders lehrreich sein. Das Umwenden, Drehen, Verschieben 
der Figuren, insbesondere zum Nachweis der Kongruenz und der Ahulichkeit müssen wohl- 
vertraute Arbeitsmittel werden. 
Die Anschauung geometrischer Gebilde ist aber nicht Selbstzweck. Sie wird zur leeren 
Spielerei, wenn sie nicht zu räumlichem Denken erzieht und zur Erweckung innerer Anschanung 
und zu begrifflichen Abstraktionen führt. Deshalb ist die Betrachtung körperlicher Gebilde 
allenthalben in die erste Linie zu stellen, und im späteren Verlauf des Unterrichts ist, wo“ 
irgend möglich, an körperlichen Gebilden zu arbeiten. Die Arbeit an konkreten Modellen muß 
möglichst frühzeitig beginnen und in sachgemäßer Abstufung und Steigerung zur Arbeit am 
reinen, nur in der Phantasie bestehenden geometrischen Gebilde führen. Möglichste Mannig- 
faltigkeit der dabei verwendeten Anschauungsmittel wird die Abstraktion wesentlich erleichtern. 
Ebenso muß aber auch bei den mit anschaulichen Mitteln gefundenen Tatsachen schon früh- 
zeitig und in stets steigendem Maße die zwingende innere Notwendigkeit als solche erkanm 
werden. 
Die Überleitung aus der anschaulichen in die wissenschaftliche Behandlung der Geometrie 
fällt der Klasse Unter III zu, wo ohne nochmalige ausführliche Behandlung des seither durch- 
genommenen Stoffs allmählich die Gedankengänge der wissenschaftlichen Geometrie einzusetzen 
haben. 
Die darstellende Geometrie als besonderes Fach ist aufgegeben. Dagegen soll das Präzisions- 
zeichnen an geeigneten Beispielen des geometrischen Lehrstoffs frühzeitig geübt werden. Die 
im Lehrplaun angegebenen Stoffe sollen im Anschluß an die Stereometrie und die andern Ab-
	        
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