Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Sechsundzwanzigster Jahrgang. 1910. (51)

Die ãsterreitisch·nugarishe Menarqie. (Juli 21.) 467 
Angesichts der erhebenden Tage, die von der polnischen Nation jetzt in Krakau 
gefeiert werden, sind wir aber gewiß, daß ihm dies nicht gelingen wird."“ 
Der Redakteur Brenczaninow der Petersburger „Retsch“ und mehrere frei- 
sinnige russische Dumaabgeordnete forderten, daß das gegenwärtige 
Verhältnis zwischen Russen und Polen gebessert werde. Polen und Russen 
sollten deshalb viele Blätter ihrer Geschichte zerreißen und vergessen. Die 
Politik der gegenwärtigen Duma und der gegenwärtigen russischen Regierung 
finde nicht den Beifall der überwiegenden Mehrheit des freisinnig gesinnten 
russischen Bolkes. Dagegen erklärte ein polnischer sozialdemokratischer 
Redakteur, Polen könne nicht früher aufatmen, als bis es ganz von Rußland 
losgerissen sein werde. Mehrere russische Dumaabgeordnete freisinniger Ge- 
sinnung beeilten sich nach dieser Rede sofort, einen offenen Brief an die 
Presse zu richten, worin sie erklären, daß sie die Rede des polnischen 
Sozialdemokraten entschieden mißbilligen; die freisinnigen Russen wollten 
Polen wohl eine Autonomie gewähren, gegen eine Losreißung der zu Rußland 
gehörigen Landesteile aber müßten sie entschieden Front machen. 
21. Juli. (Ungarn.) Abgeordnetenhaus. Am Schluß der 
Adreßdebatte verteidigt Ministerpräsident Graf Khuen-Hedervary 
die Adresse gegen die Angriffe der Opposition. 
Der Ministerpräsident bemerkte gegenüber dem Vorwurfs, eine Politik 
der Entsagung zu betreiben und ein Einvernehmen zwischen Krone und 
Nation durch Verzicht auf alle nationalen Bestrebungen herzustellen, daß 
die Grundlage dieses Einvernehmens die aufrichtige und rückhaltlose An- 
erkennung des Ausgleichsgesetzes sei, während die Kossuthpartei, als sie an 
der Spitze der Regierung gewesen sei, sich nur mit allerlei Vorbehalten 
zum Dualismus bequemt habe. Die Regierungspartei habe niemals den 
Wählern eine Zusicherung bezüglich irgendwelcher nationaler Errungen- 
schaften gemacht. Auf eine Bemerkung, daß die gegenwärtige Regierungs- 
partei nur die wiedererstandene frühere liberale Partei sei, erwiderte der 
Ministerpräsident, dies sei eher ein Lob als ein Tadel. Die Regelung der 
Bankfrage, erklärte der Ministerpräsident weiter, verfolge den Zweck, dem 
öffentlichen Kredit zu dienen. Die gemeinsame Notenbank habe sich in 
schwierigen Zeiten sehr bewährt. Es sei ein charakteristischer Fingerzeig, 
daß das Ausland, als die Fortdauer der Bankgemeinschaft zweifelhaft ge- 
wesen sei, gegen Ungarn mißtrauisch geworden sei und dessen beste Papiere 
zurückgeschickt habe; das Vertrauen in den Kredit Ungarns habe sich aber 
merklich erhöht, als die Unsicherheit bezüglich der Bankgemeinsamkeit auf- 
hörte. Da habe das Ausland die früher zu billigem Kurse zurückgesandten 
Papiere zu höherem Kurse zurückerworben. — Was die Erhöhung der 
Armeelasten betreffe, so müsse Ungarn seine Wehrmacht im Verhältnis zu 
der der anderen Großmächte entwickeln. Das ganze Land, das ganze Ab- 
geordnetenhaus und die Presse blickten mit Stolz und Befriedigung auf 
jene ernste Stunde zurück, in der Ungarn durch die Schlagfertigkeit seiner 
Armee zuverlässig dem Kampf hätte entgegengehen können, mit dem es die 
Verwicklung anläßlich der Annexion bedroht habe. Ueber die Wahlreform 
sagte der Ministerpräsident, er selbst vertrete eine sehr liberale Auffassung 
und halte eine weitergehende Lösung für das Land nicht für gefährlich. 
Andererseits müsse man auch jener gutgläubigen pessimistischen Auffassung 
Rechnung tragen, die üble Folgen von einer zu ausgedehnten Wahlreform 
befürchte. Man müsse jetzt einen größeren Schritt machen, da man ver- 
säumt habe, von Stufe zu Stufe fortzuschreiten. Er hosse, daß die Lösung 
der Wahlreform durch Ausgleichung der einander entgegenstehenden An- 
30“ 
 
	        
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