Metadata: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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den beiden andern Faktoren ist heute der über- 
wiegende? Schmoller führt die Klassenbildung im 
wesentlichen auf die Berufs= und Arbeitsteilung 
zurück, betrachtet Vermögen und Einkommen als 
Folgen der gesellschaftlichen Arbeits= und Berufs- 
teilung, nicht als deren Ursache, und betont sehr 
stark das Moment der Vererbung eines bestimmten 
Klassenhabitus, bestimmter professioneller Eigen- 
tümlichkeiten innerhalb der Klasse. Bücher hat 
gegen letztere Aufstellung Widerspruch erhoben, 
wohl mit Recht; desgleichen wird ihm beizustimmen 
sein, wenn er Vermögen und Einkommen eher als 
Ursache der gesellschaftlichen Arbeits= und Berufs- 
teilung anzusehen geneigt ist. Allerdings sind noch 
weitere Faktoren bei der ganzen komplizierten Ent- 
wicklung in Betracht zu ziehen. „Keine Entstehung 
einer neuen sozialen Klasse“, so urteilt Schmoller 
(a#. a. O. 436), „ist durch Besitz oder Nichtbesitz allein 
zu erklären; das Wichtige und Primäre sind tech- 
nische, geistige, moralische Kräfte; die oberen Klassen 
steigen durch Fortschritte, deren Träger sie sind, 
durch höhere als die bisherigen Kräfte empor; sie 
erwerben dadurch meist sofort oder bald größeres 
Einkommen; das gibt häufig auch ein größeres 
Vermögen; das verstärkt ihre Ubermacht und för- 
dert auch so lange ihre höheren Kräfte und deren 
Erhaltung, als die Klasse selbst im Aufsteigen be- 
griffen ist, dem Ganzen mehr dient als schadet.“ 
Zweifellos wirken verschiedene und verschieden- 
artige Faktoren bei dem Prozeß zusammen; wenn 
aber Schmoller betont: „Überall ist der Besitz das 
Außerliche, das aus innern psychologischen Kräften 
entspringt“, so ist das doch eine optimistische Auf- 
fassung; denn es läßt sich die Tatsache nicht be- 
streiten, daß, wenigstens in der Gegenwart, in 
unserem modernen Staat für die Klassenschichtung 
und Klassenwertung der materielle Gesichtspunkt 
hauptsächlich maßgebend ist; „heute stellt das so- 
ziale Bewußtsein die Besitzschichtung in den Vorder- 
grund“ (Pesch). Leider ist der Besitz nicht überall 
„daß Außerliche“; wäre dem so, dann müßte das 
Aussteigen tüchtiger Kräfte aus den unteren Klassen 
sich in unserer Gesellschaft leichter erreichen lassen; 
nun wird aber tatsächlich der einzelne, wenn auch 
nicht wie ehedem in einen bestimmten Beruf, so 
doch in eine soziale Berufsklasse hineingeboren und 
dadurch die „soziale Auslese“, die Auslese der 
wirtschaftlich Tüchtigen in erheblichem Maß ge- 
hindert (Bücher, Fuchs). 
3. Notwendigkeit und Aufgabe der 
Klassen. Ohne soziale Gliederung, ohne soziale 
Sonderbildungen kann kein Staat bestehen und 
hat nie ein Staat bestanden. Zu solchen Bildungen 
führt ganz naturgemäß die unter den Menschen 
nun einmal bestehende Verschiedenheit und ander- 
seits der Trieb des menschlichen Herzens, sich mit 
Gleichgestellten und Gleichgesinnten zusammen- 
zutun. Die absolute Gleichheit ist ein Unding, die 
Hoffnung und das Streben, sie ins Leben zu rufen, 
eine Utopie; Gleichheit in diesem Sinn bedeutet 
den Tod der Individualität, bedeutet unwürdige 
Stände. 
  
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Knechtschaft. Diese sozialen Sonderbildungen, 
notwendig für den Staat und die Erfüllung seiner 
Aufgaben, ändern zwar, einmal vorhanden, ihre 
Form, verschwinden aber — aus den angedeuteten 
Gründen — nicht mehr aus dem Gemeinwesen. 
Jene Gründe werden noch durch gewisse Tendenzen 
verstärkt, die dahin zielen und wirken, die sozialen 
Sonderbildungen zu erhalten. Overbergh zählt 
eine Reihe derartiger „Gesetze“ auf; es sind Ten- 
denzen, die sich aus der Natur dieser sozialen Bil- 
dungen ergeben. Wir nennen die Tendenz der 
Einheit, der Kontinuität, die Tendenz der An- 
passung und der Differenzierung (Schaffung ge- 
eigneter Organe für die Ausübung der Funktionen), 
die Tendenz der Solidarität u. a. (vgl. Pesch 
a. a. O. 767 ff). Die Aufgabe dieser sozialen Bil- 
dungen ist eine überaus bedeutungsvolle. Die 
alten „Stände“, die Korporationen der Priester, 
der Krieger, der Kaufleute und Handwerker, der 
Bauern und gewisser höher stehender Arbeiter, 
diese korporativ organisierten Verbände mit ihrer 
Erblichkeit der Berufe haben die ihnen zufallende 
Aufgabe lange glänzend erfüllt. Was aber anfäng- 
lich heilsam und berechtigt war, die weitgehende 
Privilegierung und Abgeschlossenheit, schlug schließ- 
lich um in Unrecht und Nachteil für die Gesamt- 
heit. Im 16. Jahrh. beginnt der Kampf gegen die 
verknöcherte Ständeordnung mit ihrer Exklusivi- 
tät und einseitigen Privilegienwirtschaft. Sind 
nun die „Stände“ auch nicht völlig beseitigt und 
nicht völlig zu beseitigen, so sind doch die sozialen 
Klassen, d. h. „offene" Klassen ohne gesetzliches 
Privileg, aber — wie bereits betont wurde — mit 
dem Anspruch auf die ihrer sozialen und ökono- 
mischen Funktion entsprechenden Achtung, in den 
Vordergrund getreten. Was nun eben diese soziale 
Funktion betrifft, so unterscheiden wir nach Over- 
bergh folgendermaßen: Die ökonomische Funktion 
der höheren Klassen im modernen Staat ist Be- 
schaffung und Leitung der Vorräte an Produk- 
tionsmitteln; die der unteren Klassen besteht darin, 
ihre Arbeitskraft der nationalen Produktion dar- 
zubieten; die der mittleren Klassen darin, einerseits 
das notwendige, jedenfalls nützliche Mittelglied 
zwischen den äußersten Klassen zu bilden, und 
anderseits die produktive Arbeit intensiver zu ge- 
stalten. Dies die ökonomischen Funktionen. Die 
soziale Funktion der höheren Klassen besteht in 
der Leitung des sozialen Lebens; diese Leitung hat 
der sozialen Entwicklung auf allen Punkten zu 
dienen; wie alles Herrschen und Leiten, ist auch 
jene soziale Führung mehr Pflicht als Herrschaft, 
mehr ein Fürsorgen als ein Gebieten (vgl. Pesch 
a. a. O. 764 f; Augustinus, De civ. Dei 14, 28 
und 18, 14s). 
4. Verhältnis der Klassen. Nach sozia- 
listischer Anschauungsweise ist zwischen den Klassen 
ein notwendiger und natürlicher Gegensatz vor- 
handen; der Klassenkampf ist etwas Selbstverständ- 
liches, er ist der treibende Faktor in der Entwick- 
lung der Gesellschaft. Daß der Klassenkampf und
	        
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