Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. 91
Ausdruck zu geben, schien uns Pflicht. Darin stimmten wir aber alle überein,
daß wir ohne Unterschied der Partei sagen: Gott erhalte das Reich, Gott
schütze und segne den Kaiser! (Beifall im Centrum.) Schulze (Delitzsch):
Ich bedauere trotz des versöhnenden Schlusses der eben gehörten Rede, daß der
Vorredner und seine Freunde wegen einer, wie man sagt, kleinen Differenz sich
veranlaßt gesehen haben, ihren abweichenden Ansichten über die Gestaltung des
deutschen Reichs in einem besonderen Adreßentwurf Ausdruck zu geben. Aber
die Sache ist nicht so unschuldig, als sie aussieht. Dafür sprechen die ge-
schichtlichen Thatsachen. Die traurigsten Erfahrungen warnen uns, die ver-
hängnißvolle Erbschaft des römischen Kaisertitels anzutreten. Wir wollen einen
Staat, dessen Lebensnerv das Princip der Nichtintervention ist. Dies Princip
kann allein das neue deutsche Reich durchführen; es war absolut unmöglich
durchzuführen vor der nationalen Constituirung Deutschlands. Der Vorredner
sprach von der Einigkeit der Gewalten. Nun, die staatliche und kirchliche
Gewalt sind immer nur einig gewesen, wenn die erste sich der zweiten absolut
unterworfen hat. Wir müssen die Garantien für die innere Einheit in den
gesetzlichen Einrichtungen unseres Staates suchen. Auf das Beispiel von dem
brennenden Haus des Nachbarn antworte ich: es kommt darauf an, wem das
Haus gehört; wenn es der wahre Eigenthümer umgestalten will, weßhalb
sollten wir da eingreifen? (Heiterkeit und Beifall.) Nieper (Hannover) er-
klärt, daß er und seine Freunde gegen beide Adressen stimmen würden, da
beide die provinzielle Selbständigkeit zu sehr in Schatten stellten zu Gunsten
der Centralisation Deutschlands. Sie könnten ihre einheimische Selbständigkeit
selbst nicht über den großartigen Erfolgen des letzten Jahres vergessen.
Miquel knüpft zunächst an Das an, was beiden Adressen gemeinschaftlich
sei: den Dank gegen Kaiser und Armee. Nicht ausgesprochen sei der Dank
gegen den Reichskanzler, weil dieser noch in der Versammlung mitwirke. Das
Haus sei sich aber gleichwohl Dessen bewußt, was es dem Manne schuldig sei,
der die größten Schwierigkeiten überwunden und die höchsten Erfolge errungen,
seit es eine deutsche Geschichte gebe. Ueber den tiefen Gegensatz beider Adreß-
entwürfe seien die bisherigen Redner spielend hinweggegangen. Der Abg.
Reichensperger erkläre, es müsse jedesmal nach dem konkreten Fall beurtheilt
werden, ob es die Aufgabe eines Staates sei, zu interveniren oder nicht.
Nun, der konkrete Fall liege vor, und zwar in dem Verhältniß des Papstes
zur italienischen Regierung: gerade deßhalb müsse es klar ausgesprochen
werden, daß derlei Interventionsgelüste wohl einer Partei angehörten, daß
aber das ganze Volk hievon nichts wissen wolle. (Bravo.) Mit solcher Inter-
vention vertrage sich die Freiheit der Culte schlecht. Und für Deutschland
eigne sie sich um so weniger, als es zu ⅗ protestantisch sei und selbst im
katholischen Theile nicht durchweg einer Interventionspolitik huldige. Die-
jenigen, welche solche Forderungen stellten, müßten Klarheit darüber erlangen,
daß mit ihnen in Deutschland ein für allemal nicht durchzudringen sei. Weder
die alte Reichspolitik, noch das Löschen des Brandes in des Nachbarn Hause,
wie sich Metternich und ihm folgend der Abg. Reichensperger ausgedrückt, solle
von dem modernen deutschen Staate wieder befolgt werden. (Lebhafter Beifall.)
Frhr. v. Ketteler, Bischof von Mainz: Die ruhmreiche Kriegführung hat
uns durch die schlichten, wahrheitsgetreuen Berichte über die Kriegsereignisse
ein leuchtendes Beispiel gegeben, sie selber hat diese Schlichtheit dem einfachen,
wahren, schlichten Wesen des kaiserlichen Kriegsherrn entlehnt. In derselben
schlichten, einfachen, wahren Art muß der erste Reichstag zum ersten deutschen
Kaiser reden. Schon der erste Satz: „Auf festeren Grundlagen als je ist das
deutsche Reich wieder aufgerichtet“ ist von dieser Schlichtheit weit entfernt. Eine
Grundlage allerdings ist fester als je, die unübertroffene Heeresorganisation.
Aber außer dieser bedarf der Staat noch einer anderen, die in dem Spruche:
justitia fundamentum regnorum enthalten ist. Ob Gerechtigkeit, Sittlichkeit,
Gottesfurcht in dem neuen Reiche ihrer Stätte finden werden, muß sich noch