Full text: Deutsches Staatsrecht. Erster Band: Die Grundlagen des deutschen Staates und die Reichsgewalt. (1)

112 I. Buch. Die Grundlagen des deutschen Staates. 
den Punkt richtig zu bemessen, an dem das eigene Eingreifen des 
Staates erforderlich und rätlich wird, bei seinem Eingreifen aber 
fernerhin die Entscheidung zu treffen, unter welchen Voraussetzungen 
er seine Verrichtungen und Veranstaltungen nur als Gewährungen 
seinen Angehörigen darbietet oder sie ihnen, wie im Schul- und 
Impf-, im Versicherungs- oder selbst im Arbeitszwange, aufnötigt. 
Nach beiden Seiten mithin setzt alle Thätigkeit des Staates einen 
beherrschenden Überblick über die sittlichen Güter voraus, die unter den 
gegebenen natürlichen und historischen Bedingungen durch das gesell- 
schaftliche Zusammenwirken erstrebenswert und erreichbar sind. Nur 
aufGrund einesGesamtplanes für das Leben der Volks- 
semeinschaft, welcher alle Seiten ihrer vernunft- 
mäflsigen Entwicklung, soweit sie den gesellschaft- 
lichen Einflüssen zugänglich sind, befalst, vermag der 
Staat die ihm eigentümliche Aufgabe zu lösen. 
Gewils trifft hierbei den Staat das nämliche Schicksal, wie das 
Individuum. Nur allmählich erhebt sich dieses aus instinktiven Strebungen, 
die es aus der Natur seines Wesens heraus treiben, zur zielbewulsten 
Regelung seines Lebens. Nur mühsam überwindet dasselbe die 
Hemmungen, welche mangelnde Einsicht, mangelnde Diseciplinierung 
der Gefühle und Strebungen, aber nicht minder der Zufall der Natur 
und der Geschichte seiner sittlichen Entwicklung entgegenstellen. Nur 
annähernd lebt das Individuum ein volles menschliches Leben aus; 
es muls sich bescheiden, bruchstückweise und unzulänglich vereinzelte 
Seiten aus dem Reichtum seiner Anlagen auszubilden. So bleibt denn 
auch der Staat, wie er immer nur eine Verbindungsweise von Indivi- 
duen darstellt, in mannigfachen Schwankungen hinter seiner Aufgabe 
zurück. Nur nach langer Arbeit und durch Einbeziehung aller besten 
Kräfte des Volkes in seinen leitenden Organismus gewinnt er Einsicht 
und Kraft genug, um seinem Berufe zu genügen. 
Ja der Staat kann nicht nur nicht minder, sondern er kann in 
verstärkter Weise sündigen als die vereinzelte Kraft des Individuuns. 
Er kann sein Wesen, seine Aufgaben und seine Grenzen verkennen; 
mag er seine Herrschaft im.einseitigen Interesse der Machthaber und pri- 
vilegierten Klassen milsbrauchen; mag er versuchen, in die ihm verschlosse- 
nen, allein auf das Gewissen der Individuen gestellten innern Vorgänge 
einzudringen oder durch äulsere Gesetze die im Wesen der Dinge und 
der Menschen angelegte Gesetzmäfsigkeit des sittlichen, wirtschaft- 
lichen, technischen Handelns umzustofsen. Er kann damit aus dem 
Segen, der jedes Opfers an Gut und Blut wert ist, sich in den Fluch 
verkehren, gegen den alle guten Geister zusammenstehen.
	        
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