Full text: Deutsches Staatsrecht. Erster Band: Die Grundlagen des deutschen Staates und die Reichsgewalt. (1)

152 I. Buch. Die Grundlagen des deutschen Staates. 
ihr specifischer Beruf, dals ihre Dogmen auch da, wo die äulsere 
Organisation nicht schlechthin dogmatisiert wird, doch mit Not- 
wendigkeit bestimmte organisatorische Formen voraussetzen. Die An- 
erkennung des dogmatischen Berufes der Kirche führt unausbleiblich 
zur Anerkennung einer Autonomie in ihren inneren Angelegenheiten, 
die: die Grenzen der Autonomie überschreitet, welche der Staat ge- 
meingültig den freien Vereinen zuerkennt. 
2. Damit steht die Frage der Jurisdiktion im engsten Zusammen- 
hange. Weil sie integrierende Bestandteile seiner Rechtsordnung sind, 
sind alle Rechtsstreitigkeiten der freien Vereine auch in ihren inneren 
Verhältnissen der Jurisdiktion des Staates ohne Unterschied unter- 
worfen. Aber auch hier ist die äulsere rechtliche Gestaltung der 
Verhältnisse der kirchlichen Organe untereinander und gegenüber den 
Mitgliedern so sehr durchsetzt und beherrscht von den religiösen Vor- 
stellungen, dafs jede Kirche selbständige Rechtseätscheidungen in ihren 
Diseiplinar: und Zuchtgewalten für sich in Anspruch nimmt, die die 
regelmälsigen Befugnisse des Staates zurückdrängen. 
3. Endlich aber und vor allen Dingen liegt es in der Natur jedes 
kirchlichen Verbandes, dals er sich nicht beschränkt auf die Normierung 
religiöser Vorstellungen. Er leitet aus den letzteren Vorschriften der 
sittlichen Haltung auf allen Lebensgebieten ab. Er stellt damit not- 
wendig auch Anforderungen an die konkrete Gestaltung der Rechts- 
ordnung, an die eigenste Thätiekeit des Staates selbst und er stellt 
diese Anforderungen auf mit der Kraft einer Autorität und mit der 
Macht einer selbständigen korporativen Organisation, welche den kirch- 
lichen Verband unvergleichlich macht mit jeder anderen, dem Staate 
eingeordneten Vereinigung. 
Alle diese Elemente haben in einer konkreten historischen Ent- 
wicklung zu einer Rechtsstellung der kirchlichen Verbände geführt, 
die durchaus eigenartiger Natur ist. 
Eigenartig ist im Vergleich mit den Selbstverwaltungskörpern 
und mit den freien Vereinen die Selbständigkeit und Unabhängigkeit, 
mit der sie „ihre Angelegenheiten ordnen und verwalten“ ?. 
Eigenartig sind aber auch notwendig die Rechte, welche der Staat 
den kirchlichen Verbänden gegenüber in Anspruch nehmen muls, um 
2 In dem Doppelsatze der d. R.V. von 1849 $ 147: „Jede Religionsgesell- 
schaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig, bleibt aber 
den allgemeinen Staatsgesetzen unterworfen“, widerspricht der zweite dem 
ersten Satze. Das preufsische Gesetz vom 15. April 1873 schaltete darum im 
zweiten Satze noch ein: „und der gesetzlich geordneten Aufsicht des Staates“ 
und liefs das Prädikat „allgemeine“ weg.
	        
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