$ 31. Das Problem des Bundesstaates. 201
I. Dieses rechtliche Problem des Bundesstaates kann
an erster Stelle in einer Reflexion auf die neben- und miteinander
wirkenden, centralen und decentralisierten Gewalten, von deren
näheren ÖOrganisationsformen noch abgesehen, in Betracht gezogen
werden.
1. Hier richtet sich die nächste Frage auf die rechtliche Natur
der centralen Gewalt, die freilich zugleich über die allgemeine
Natur der centralen Organisation entscheidet. Ist sie, gemessen
an den festen Begriffen, die am Einheitsstaat gebildet sind, staat-
licher Art?
Die Frage trifft sofort auf eine scharfe Verneinung von seiten
einer Theorie, die zuerst in Amerika von dem Senator Südkarolinas,
John C. Calhoun zur Rechtfertigung des Rechtes der Einzelstaaten
auf Secession von der Union und auf Nullifikation ihrer Gesetze ge-
schaffen und alsdann sofort nach Gründung des Reiches von M. Sey-
del! auf Deutschland überträgen worden ist. „Der Bundesstaats-
begriff“, so sagt Seydel, „teilt die Staatsgewalt, indem er über
den Gesamtstaat wie über die Gliederstaaten einen suveränen Willen
herrschen läfst, also eine zweifache Staatshoheit in jedem Lande an-
nimmt. Er begrenzt die Staatsgewalt, indem er ihr im Gesamt-
staate wie im Einzelstaate nicht das Recht am Staate, die Gesamt-
heit aller Hoheitsrechte, sondern hier wie dort nur eine gewisse An-
zahl von Hoheitsrechten zuweist. Es ist aber gerade der Inhalt der
Staatshoheit und der Staatsgewalt, dafs sie unumschränkt sei. Mithin
ist das, was hier Staatsgewalt genannt wird, in Wahrheit keine
Staatsgewalt, was hier Staatshoheit genannt wird, in Wahrheit keine
Staatshoheit: wo aber keine Staatsgewalt und keine Staatshoheit, da
ist auch kein Staat“ °. Daher das Ergebnis: „Der Bundesstaats-
begriff ist ein wissenschaftlich unmöglicher, weil er
im Widerspruche steht mit dem Wesen des Staats“. Alle
jene politischen Gebilde, die man bisher als Bundesstaaten zu be-
zeichnen pflegte, müssen entweder einfache Staaten oder Staatenbünde
sein. „Das deutsche Reich ist ein Staatenbund.“
' Der Bundesstaatsbegriff, Tübinger Zeitschr. 18728. 185 ff. Kom-
mentar zur Verfassungsurkunde f. d. deutsche Reich. 1873. Die neueste
Gestaltung des Bundesstaatsbegriffes, in Hirths Annalen, 1876, S. 641 fl.
Bayerisches Staatsrecht I 508.
® In einem ähnlichen Gedankengange gelangt Held, Die Verfassung des
Deutschen Reiches, 1872, zu dem Ergebnis, dafs das deutsche Reich nur eine
Übergangsform sei, die entweder in den Staatenbund zurückfallen oder zum
Einheitsstaat sich ausbilden müsse.