204 I. Buch. Die Grundlagen des deutschen Staates.
2. Wird der Bundesstaat nicht in den Staatenbund aufgelöst,
sondern als Staat schlechthin oder doch als suveränes Gemeinwesen
anerkannt, dann ist es eine nicht minder gewichtige Frage, welcher
Art die Einzelstaaten sind.
Hier setzt die Lehre von @. Waitz’? über das Wesen des Bundes-
staates ein. In Anlehnung an die Auffassung der amerikanischen
Unionsverfassung, wie sie in erster Linie vom „Federalist“ erläutert
und alsdann von A. de Tocqueville — de la d&mocratie en Ame-
rique — in elänzender Darstellung verbreitet wurde, spricht sie dem
centralen wie dem decentralisierten Gemeinwesen die volle Staatsnatur
zu. Die Suveränetät ist dem Umfange nach und nach Malsgabe
der verfassungsmälsigen Kompetenzbestimmungen zwischen beiden ge-
teilt, aber ihrem Inhalte nach ist sie für das Kompetenzgebiet
eines jeden Teiles dieselbe.
Die Auffassung von Waitz ward die malsgebende bis zur Grün-
dung des norddeutschen Bundes und des deutschen Reiches. Erst
seitdem ist ihre Herrschaft erschüttert. Aber auch auf Grund der
deutschen Verfassungen blieb sie die Ansicht von R. von Mohl'®,
Westerkamp!!, Rümelin!®, Bornhak!®. In etwas anderer
Wendung ist sie auch festgehalten von Gareis!‘“, welcher den Einzel-
staaten eine „beschränkte“ Suveränetät, soweit sie gesetzgebend die
Wahl ihrer Interessen und die Wahl der Mittel zur Vertretung der-
selben haben, zuspricht und von von Sarwey'?, der behauptet, dals
die Suveränetät der Substanz nach bei dem Einzelstaate geblieben
sei, dem Reiche aber um der Ausübung derselben auf seinem Kom-
petenzgebiete willen gleichfalls zustehe. Selbst Brie!‘, der im all-
gemeinen die Zweiteilung der Suveränetät ausschlielst, hält doch an
der Suveränetät derjenigen privilegierten Einzelstaaten fest, die ent-
weder um ihrer Stimmenzahl im Bundesrate willen jede Kompetenz-
änderung des Reiches verhindern können, oder im Besitze einzelner
® Grundzüge der Politik, 1862, S. 42, und daselbst S. 153 ff.: Das
Wesen des Bundesstaates (zuerst 1853).
10 Encyklopädie der Staatswissenschaften, 2. Aufl., S. 366 ff.
und Das deutsche Reichsstaatsrecht, insbesondere S. 37 Note 1.
11 Über die Reichsverfassung S. 40.
ı2 Tübinger Zeitschrift, 1883, S. 200. 205.
13 Preufsisches Staatsrecht I 68f.
ı+ Allgemeines Staatsrecht, in Marquardsen, Handb. d. öftentl.
Rechts, I. Bd., 1. Halbbd., insbesondere S. 30 und 8. 106 ff.
5 Staatsrecht des Königreichs Württemberg I 31 ff.
16 Theorie der Staatenverbindungen, 1886, insbesondere S. 112,