222 II. Buch. Die Reichsgewalt.
fassungsgesetze gewollt und zum erkennbaren Ausdruck gebracht
sei — auch hier vorbehaltlich der Möglichkeit der Bildung eines Ge-
wohnheitsrechtes und des Nachweises, dals dieselbe rechtseültig er-
folgt sei.
. Aber allerdings dieser leitende Grundsatz ist schlechterdings nicht
gleichbedeutend mit einer irgendwie beschränkten juristischen
Hermeneutik.
Es würde irrtümlich sein, wenn man daraus die Berechtigung zu
einer Präsumtion gegen die Kompetenz des Reiches ab-
leitete*. Die rechtliche Folge, dals, wenn dem Reiche durch die Aus-
legung eine Kompetenz nicht zugesprochen werden kann, alsdann das
Recht des Reiches der freien partikularrechtlichen Gestaltung der
Einzelstaatskompetenz keine Schranke setzt, hat nichts zu thun mit
Frage, wie die Reichskompetenz festgestellt werden kann.
Nicht minder irrtümlich wäre die Annahme, dafs die Auslegung der
Kompetenzbestimmungen der Reichsverfassung eine enge sein müsse
und eine erweiternde nicht sein dürfe?. Sie ist irrtümlich auch in
der Wendung, dals eine Kompetenz des Reiches nur dann begründet
sei, wenn sie in der Verfassung ausdrücklich festgestellt sei, nicht
aber, wenn sie erst aus dem Zusammenhang und dem Zwecke der Ver-
fassungsbestimmungen oder aus sonstigen schlüssigen Umständen oder
mittels der Analogie gefolgert werden könne und müsse. In diesem
Sinne vielmehr giebt es auch „stillschweigende“ Kompetenz-
bestimmungen. Insbesondere gilt kraft logischer Schlufsfolgerung der
Satz: Ist eine bestimmte Angelegenheit verfassungs-
mälsig der Regelung des Reiches unterworfen, so ist
dasselbe auch kompetent, solche andere Regelungen
vorzunehmen, die eine unerläfsliche Voraussetzung für die
‘erstere bilden, und zwar auch dann, wenn diese an-
deren Regelungen eine solche Angelegenheit im sach-
lichen Zusammenhang ergreifen, die an sich der Kom-
petenz der Einzelstaaten verblieben ist. So ist z. B. das
Reichsgesetz vom 6. Februar 1875 über die Beurkundung des Per-
sonenstandes innerhalb der Kompetenz des Reiches ergangen, weil
dasselbe durch eine ganze Reihe ausdrücklicher Reichskompetenzen
(bürgerliches Recht, Freizügigkeit, Militärwesen) gefordert wurde, und
obgleich dasselbe in sachlicher Untrennbarkeit zugleich auch für
* v. Martitz, Betrachtungen S. 41.
5 Westerkamp, Reichsverfassung $. 34. 35. Trieps, Das Deutsche
Reich S. 104. 105.