235 II. Buch. Die Reichsgewalt.
I. Abschnitt.
Die Gesetzgebung‘.
I. Kapitel.
Die Kompetenz des Reiches zur Gesetzgebung im allgemeinen.
886,
Die Gesetzgebung, als Kompetenz, ist der Beruf des Staates, kraft
seiner Autorität die Gesamtheit der Rechtsregeln zu erzeugen, welche
für die seiner Herrschaft unterliegenden Willensverhältnisse erforder-
lich sind. Als Funktion ist sie die oberste und vornehmste Thätigkeit
des Staates, auf deren Boden sich alle seine übrigen Lebensäulserungen
bewegen. Ob und in welcher Weise darum einem Öffentlichen Wesen
das Recht zur Gesetzgebung zugeschrieben wird, das wird für die
Natur desselben als eines Staates oder als eines anderweitigen Ver-
bandes entscheidend sein.
Die Reichsverfassung spricht dem Reiche die Gesetzgebung in den
nämlichen Wendungen zu, wie dies in den Verfassungen der Einheits
oder Einzelstaaten geschieht. „Das Reich hat die Gesetzgebung“ —
R.V. a. 35 al. 1 —, „dem Reiche steht die Gesetzgebung zu“ —
R.V. a. 52 al. 2—. Es ist dies eine Ausdrucksweise, welche die An-
nahme ausschliefst, als ob diese Kompetenz in irgend welchem recht-
lichen Abhäneigkeitsverhältnisse in dem Sinne befangen sei, dals sie
ihren Rechtsgrund in Ableitung aus dem Rechte irgend eines anderen
Subjektes, sei es der Einzelstaaten oder etwa des deutschen Volkes,
fände und mithin die irgendwie gewandte Ausübung eines fremden
Rechtes sei. Die Gesetzgebung gebührt dem Reiche unmittelbar kraft
der Verfassung zu eigenem, organischem Rechte.
Sie gebührt ihm in dem gemeingültigen Sinne des Wortes, wonach
die Gesetzgebung alle Stadien der rechtserzeugenden Thätigkeit be-
zeichnet. Sie befalst nicht nur die abschliefsenden Willenshandlungen,
welche die Feststellung des gesetzgeberischen Beschlusses und alsdann
seine Verkündigung zur Absicht haben, sondern auch die Vorberei-
tungshandlungen, welche dem Kreise der entfernteren und
näheren gesetzgeberischen Erwägungen angehören. Das Reich ist
vorab befugt zu allen den Malsregeln und Organisationen, welche für
die Feststellung und Sichtung der thatsächlichen Grundlagen erforder-
ı Laband, Staatsrecht d. deutschen Reiches I 512 ff., insbesondere
S, 573. Schulze, Lehrb. d. deutschen Staatsrechts II 125 ft.