Full text: Deutsches Staatsrecht. Erster Band: Die Grundlagen des deutschen Staates und die Reichsgewalt. (1)

350 II. Buch. Die Reichsgewalt. 
III. Die Schranken, welche das Reich seinen Mitgliedern in der 
Verfügungsgewalt über ihren eigenen Bestand zieht, beseitigen nicht, 
sondern sie haben im Gegenteile die Natur der Einzelstaaten als 
selbständiger, vom Reiche verschiedener politischer Organisationen 
zur Voraussetzung. Wie dieselben thatsächlich dem Reiche zeitlich 
vorangingen, so sind sie auch rechtlich zwar eingegliedert in das 
Reich, aber nicht seine Schöpfungen. In ihrer historischen Entwick- 
lung und in ihrer zu Recht entstandenen und bestehenden Verfassung 
haben sie den unabgeleiteten Rechtsgrund ihrer Existenz. Darum tritt 
der Organisationsgewalt des Reiches die Organisationsgewalt der 
Einzelstaaten zur Seite. Beide müssen in einem rechtlich geordneten 
Verhältnisse zueinander stehen. Und zwar erfolgt die rechtliche Ab- 
grenzung derselben und die Bestimmung der Einwirkung der einen 
auf die andere durch die Verteilung der primären Kompetenzen, 
welchen zu dienen die Organisationen beider Teile bestimmt sind. 
Die verfassungsmälsige Doppelstellung der Einzelstaaten ist das ent- 
scheidende Kriterium. 
1. Soweit nach Malsgabe der verfassungsmälsigen Kompetenzver- 
teilung die Einzelstaaten berufen sind, die Staatsaufgaben unabhängig 
von dem Reiche, selbständig und auf eigene Verantwortlichkeit zu er- 
füllen, soweit steht ihnen auch die Rechtsgewalt über ihre Organisa- 
tionen in Gesetzgebung und Vollziehung in voller Unabhängigkeit zu. 
In diesem Bereiche stöfst die Organisationsgewalt des Reiches nicht 
blofs auf Grenzen, sondern sie ist von seiner Kompetenz ausgeschlossen. 
Die Reichsverfassung hat diesen Satz rein durchgeführt. Sie 
bildet hierin einen Unterschied von den Verfassungen der Vereinigten 
Staaten und der Schweiz. Denn diese enthalten im Sinne grund- 
Staatsr. S. 273.274; Mejer, Einleitung S. 342; Seydel, Bayerisches Staatsr. 
I 640; Gaupp, Württemberg. Staatsrecht S. 19; Preufs, Gemeinde u. s. w. 
S. 409 ff. Dagegen erkennen die Notwendigkeit verfassungsgesetzlicher Mit- 
wirkung — wenn auch nicht überall in gleichem Umfange — an: G. Meyer, 
Lehrbuch d. deutschen Staatsrechtes $ 164, insbesondere Note 15; Tinsch, 
Recht der Einzelstaaten S. 43; Prestele, Völkerrechtliche Verträge S. 21; 
Riedel, Reichsverfassungsurkunde S. 76. 77.80; Opitz, Staatsrecht d. Königr. 
Sachsen I 70 ff.; auch Zorn, Staatsrecht d. deutschen Reiches — letzterer hält 
freilich den Wegfall oder Zutritt eines Staates für die „faktische“* (?) Lösung 
oder Neuschliefsung des Bundesverhältnisses unter allen Bundesgliedern, was 
nur bei der Annahme eines Societätsverhältnisses begreiflich ist. — Diese 
gegensätzlich verschiedenen Meinungen sind auch bei den Verhandlungen des 
preufsischen Abgeordnetenhauses über den ersten Accessionsvertrag mit Wal- 
deck — Sitzung vom 11. Dez. 1867, Sten. Ber. S. 333 ff. — zu Tage getreten; 
der Reichskanzler vertrat hierbei die Notwendigkeit reichsverfassungsgesetz- 
licher Regulierungen.
	        
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