444 II. Buch. Die Reichsgewalt.
weggefallen ist. Die Erklärung des Kriegszustandes ist nach dem
Wortlaut der R.V. a. 68 an die Person des Kaisers gebunden worden.
Es kann nicht vorausgesetzt werden, dafs der Kaiser berechtigt werden
sollte, durch Delegation sei es an einzelne Militärbefehlshaber, sei es
an den Reichskanzler, eine Befugnis zu übertragen, welche in die ver-
fassungsmälsige Rechtsstellung der Einzelstaaten und der Landesherren
einen so folgenschweren Eingriff enthält??. —
Mit dem allen bewährt sich das Recht des Reiches zur Erklärung
des Kriegszustandes als eine äufserste Malsregel zum Schutze des
Reiches als Ganzen und seiner einzelnen Gliederstaaten. Sie erweitert
die Kompetenz des Reiches zu einer Ergreifung der vollziehenden Ge-
walt, zu einer eigenen und unmittelbaren Verwaltung, welche eine
teilweise Suspension der verfassungsmälsigen Regierungsrechte der
Einzelstaaten, der landesherrlichen Gewalt zur Folge hat. Sie stellt,
weil ausschliefslich in die Hand des Kaisers gelegt, die Existenz der
Einzelstaaten im Augenblicke ihrer höchsten Gefahr nur noch auf das
Schutzrecht und die Schutzpflicht des Reiches.
Doch ist diese aufserordentliche Kompetenz eine aktuelle nur mit
Ausschluls Bayerns. Für dieses besteht nach dem bayrischen Ver-
22 Zulässig ist es dagegen auf Grund der vom Kaiser erlassenen Er-
klärung des Kriegszustandes, den Militärbefehlshabern die Ermächtigung zu
erteilen, nach ibrem Ermessen zur Suspension der durch die preufsischen Ver-
fassungsartikel bezeichneten Gesetze zu schreiten. Denn es ist dies im Sinne
des preufsischen Gesetzes nur eine weitere Ausführungsmaflsregel. — Die
Praxis befindet sich mit den obigen Ausführungen allerdings nicht in Überein-
stimmung. Am 16. Juli 1870 wurden die Hafenbefestigungen der Kieler Bucht
ohne kaiserliche Verkündigung durch den Stationschef in Belagerungszustand
erklärt. Erst später wurden durch kaiserliche Verordnung vom 21. Juli 1870
die Bezirke des 1. und 2. und des 8.—11. Armeecorps auf Grund R.V. a. 68
in Kriegszustand versetzt. Durch allerhöchsten Erlafs vom 22. Juli 1870, betr.
die Einsetzung von Generalgouverneuren und deren Instruktion (No. 6), wurde
sodann den Generalgouverneuren das Recht der Suspension der preufsischen
Verfassungsartikel und der analogen partikularrechtlichen Verfassungs- und
Gesetzesbestimmungen beigelegt. Die No. 7 desselben Erlasses bestimmte
aber auch: „Für diejenigen Teile des preu[sischen Staatsgebietes, in denen
der Kriegszustand durch den Bundesfeldherrn nicht erklärt oder demnächst
wieder aufgehoben ist, stehen den Generalgouverneuren bezüglich der selb-
ständigen Erklärung des Belagerungszustandes die Befugnisse eines komman-
dierenden Generales zu.“ Ebenso ist die Erklärung des Belagerungszustandes
in Bielefeld provisorisch vom dortigen Militärbefehlshaber (definitiv vom
preufsischen Staatsministerium) unter dem 28. (und 30.) März 1885 ergangen.
Über abweichende Ansichten s. Westerkamp, Reichsverfassung $. 66;
v. Rönne, Reichsstaatsrecht I 84 Note 1; Thudiehum, Verfassungsrecht
S. 293.