$ 76. Allgemeines Strafrecht und Ordnungsstrafrecht. 455
den augenblicklichen, konkreten Anwendungsfällen der ersteren ent-
wiekeln; sie sollen und wollen vielmehr für Gegenwart und Zukunft
eine ununterbrochen wirksame Macht sein, die positiv ein stetiges,
ausschlaggebendes Motiv in den Erwägungen der ihre Lebensverhält-
nisse gestaltenden Gesellschaft bildet und die negativ von dem Un-
recht zurückscheucht. In diesem Sinne hat das objektive Recht eine
vom subjektiven Rechte unabhängige Bedeutung, ja sein gesellschaft-
licher Wert überragt weitaus die des letzteren. Und gerade das ist
es, was die Strafgewalt des Staates gegenüber dem Unrecht zur Gel-
tung bringt.
1. Unter diesem entscheidenden Gesichtspunkte verknüpft sich
auf der einen Seite die Strafe nicht mit jeder Verletzung oder Ge-
fährdung des subjektiven, privaten oder öffentlichen Rechtes, sondern
das Ermessen des Gesetzgebers bejaht und verneint die Strafwürdig-
keit, je nachdem die Richtung des Angriffes auf das objektive Recht
im socialen Bewulstsein hervortritt oder zurücktritt. Auf der anderen
Seite trifft die Strafe auch Thatbestände, welche die Verletzung oder
Gefährdung irgend eines andern subjektiven Rechtes als des all-
gemeinen Rechtes des Staates auf Gehorsam gegen seine Rechtsord-
nungen entweder überhaupt nicht — wie bei Gotteslästerung, Tier-
quälerei u. s. w. — oder doch nicht im konkreten Falle — bei den
„allgemeinen Gefährdungsdelikten“ — enthalten.
2. Die Strafe weiterhin steht nach der Art und dem Malse
dessen, was sie zufügt, und nach dem Subjekte, dem sie geleistet
wird, aulser einem solchen Verhältnisse zu der Art und Grölse und
zu dem Subjekte des erduldeten Unrechtes, wie es die Beziehung auf
das subjektive Recht notwendig fordern mülste. Die Strafübel,
die der Schuldige erfährt, sind ihrer Art nach vollkommen inkommen-
surabel mit dem Inhalt des subjektiven Rechtes auf Erfüllung, Ersatz
oder Ausgleich. Das Strafmafs richtet sich immer nach der Art
und Grölse der zu Tage tretenden Auflehnung gegen die objektive
Rechtsordnung, während die sociale Wertschätzung des angegriffenen
subjektiven Rechtes und der Erfolg dieses Angriffes zwar ein Moment,
aber niemals den für sich zureichenden Mafsstab für die Würdigung
der Strafbarkeit bilden können. Das Subjekt des Strafrechtes ist
niemals der Inhaber des angegriffenen subjektiven Rechtes als solcher,
sondern immer nur der Staat, wenn beide auch bei dem Angriffe auf
öffentliche Rechte zusammenfallen können.
3. Das Strafrecht endlich ist auch da, wo seine Thatbestände
die Verletzung subjektiven Rechtes als wesentliches Moment in sich
begreifen, nicht bedingt durch den Umstand, dafs die That vom Stand-