Full text: Deutsches Staatsrecht. Erster Band: Die Grundlagen des deutschen Staates und die Reichsgewalt. (1)

$ 77. Gemeinsames und partikulares Recht. 461 
Sie kann aber auch nicht jeden Gesetzgebungsakt befassen, der 
nach dem freien Ermessen der Reichsgewalt „einem gemeinsamen Be- 
dürfnis legislatorische Befriedigung“ gewährt oder „im Interesse des 
Reiches“ liegt!. Auch damit würde jede objektive Begrenzung ver- 
schwinden und die Form der Reichsgesetzgebung schon die von der 
Verfassung geforderte Gemeinsamkeit begründen; denn jedes Reichs- 
gesetz erbringt durch die Thatsache seines Erlasses den zureichenden 
Beweis, dafs nach der Auffassung des Gesetzgebers ein gemeinsames 
Bedürfnis, ein Interesse des Reiches vorliegt. 
Soll das Wort „gemeinsam“ eine rechtliche Bedeutung für die Kompe- 
tenz haben, wie es dies um seiner Stellung in R.V. a. 4 willen haben 
mufs, dann kann dasselbe nur auf den Inhalt der Reichsgesetzgebung 
gehen d.h. auf das Recht, was diese begründet. Das Wort „Gesetz- 
gebung“ bedeutet daher hier, genau so wie in der „gemeinschaftlichen 
Gesetzgebung“ der R.V. aa. 36. 37 und wie sonst häufig im täglichen 
Sprachgebrauch, nicht die Gesetzgebung als Funktion, sondern das im 
Wege der Gesetzgebung begründete Recht, das- Gesetzesrecht, die 
Rechts- oder Gesetzesmaterie. Nur so wird — unbeschadet freilich 
der sprachlichen Liederlichkeit — ein Sinn gewonnen, wenn R.V.a. 4 
unter den Angelegenheiten, welche der „Gesetzgebung“ des Reiches 
unterliegen, die „gemeinsame Gesetzgebung“ über das gesamte bürger- 
liche Recht u. s. w. aufzählt. 
II. Den Gegensatz von gemeinsamem und partikularem Recht, 
der damit aufgeworfen ist, weist auch der Einheitsstaat überall auf. 
Auch für ihn ist es unmöglich, alle einer rechtlichen Regelung be- 
dürftigen Thatbestände des bürgerlichen, Straf- und Prozelsrechtes 
durch einheitliche, für das ganze Staatsgebiet gültige Rechtssätze 
zu begründen. Überall erübrigen durch örtliche Bedingungen eigen- 
tümlich gewandte Verhältnisse, die eine sachgemälse Ordnung nur 
durch partikulare Rechtssätze gewinnen. Der Einheitsstaat wird diesem 
Bedürfnis gerecht teils dadurch, dafs er in der Form der allgemeinen 
Gesetzgebung Gesetze mit Geltung nur für einen Teil seines Staats- 
gebietes erlälst, teils durch Delegation einer decentralisierten Gresetz- 
gebung an Behörden und Selbstverwaltungskörper, teils durch An- 
erkennung autonomischer Befugnisse öffentlicher und privater Körper- 
schaften. 
Im Bundesstaate gewinnt der Gegensatz erhöhte Bedeutung. 
Er präeisiert sich durch die scharfe Abgrenzung des Gemeinsamen 
und Partikularen. Beide Begriffe werden an der verfassungsmäfsigen 
1 So H. Meyer, D. norddeutsche Strafrecht S. 7; Rüdorff, Straf- 
gesetzbuch 2. Aufl. S. 54 Note 19; Binding, Handb. d. Strafrechts I 277.
	        
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