$ 78. Die formellen Befugnisse und das Geltungsgebiet der Begrenzung. 465
Aber diese Beschränkung hat für das Strafrecht keine andere
rechtliche Bedeutung als für jeden anderen Verwaltungszweig.
Die Strafgewalt, d. h. die auf strafende Vergeltung gerichtete
Thätiekeit des Staates, die sich teils gesetzgebend, teils vollziehend
bewährt, steht darum nicht dem Reiche als alleinigem Inhaber zu. Die
Vollziehung vielmehr, die hier nur in den Formen des Strafprozesses
erfolgt, ist, zusammenfliefsend mit ihrem partikularen, auch gesetz-
sebenden Strafrecht, das eigene verfassungsmälsige Recht der Einzel-
staaten in demselben Sinne, in welchem Beaufsichtigung und. Gesetz-
gebung eigenes verfassungsmälsiges Recht des Reiches ist. Wer unter
mehreren Einzelstaaten zur Vollziehung im Gebiete des Reichsstraf-
rechtes wie berechtigt, so im Verhältnis zum Reiche verpflichtet ist,
darüber entscheiden die einschlagenden Bestimmungen des Strafprozesses
über den Gerichtsstand ?.
II. Jedoch mit dem allen — die dreifache Begrenzung des
„Strafrechtes“, welche sich ergeben hat, findet immer nur An-
wendung insofern und insoweit, als die Kompetenz des Reiches zu
einem Strafgesetz sich auf das Alinea 13 der R.V. a. 4 stützt. Sie findet
®? Binding, Handbuch des Strafrechtes I $ 101, behauptet, dafs das
Reich Inhaber aller Strafrechte, die gemeinen deutschen Strafgesetzen ent-
springen, zu eigenem Rechte sei, nicht aber die Einzelstaaten. Er leitet dies
daraus ab, dafs der Staat als derjenige, dessen Normen der Delinquent über-
tritt, somit als Inhaber des Gehorsamsrechtes, zugleich Inhaber des Straf-
rechtes gegen den Übertreter sein mufs. Allein das gerade ist es, was für
die besondere Gestaltung des Strafrechtes im Bundesstaate erst zum Beweise
steht. Wenn nun das Strafrecht ein doppeltes Moment vom Standpunkt des
subjektiven Rechtes des Staates aus enthält: das Recht auf Gehorsam gegen
seine durch Strafandrohungen geschützten Normen und das Recht der strafen-
den Vergeltung des Ungehorsams, so schliefst es das Wesen des Bundesstaates
in keiner Weise aus, dafs das Recht der Strafgesetzgebung und das Recht
der vollziehenden Vergeltung als zwischen dem Reich und den Einzelstaaten
verteilte Kompetenzen erscheinen. Die Strafgesetzgebung und das daraus
folgende Recht auf Gehorsam als „eigenes“ Recht des Reiches, dagegen die
aus den vollziehenden, einschliefslich der rechtsprechenden Funktionen ent-
springenden Strafrechte der Einzelstaaten nur als „abgeleitet“ zu qualifizieren,
ist allein unter der Voraussetzung statthaft, dafs man den Unterschied zwischen
eigenem und abgeleitetem Rechte identifiziert mit dem Unterschiede des
durch eigene Gesetzgebung einerseits und durch die Gesetzgebung einer über-
geordneten Autorität andererseits geregelten subjektiven Rechtes. Im regel-
mälsigen subjektivrechtlichen Sinne, im Gegensatze des eigenen und des nur
ausgeübten fremden Rechtes sind die vollziehenden Rechte der Strafgewalt
so sehr eigenes Recht der Einzelstaaten, als die gesetzgebenden Rechte der
Strafgewalt das des Reiches. .
Binding, Handbuch. V. 1: Hänel, Staatsrecht. 1. 30