$ 92. Die völkerrechtliche Stellung der Einzelstaaten. 555
nicht erst auf Anrufen, sondern von Amts wegen sich derjenigen
völkerrechtlichen Streitigkeiten anzunehmen und dieselben zu seiner
Koenition zu ziehen, welche zwischen einem Einzelstaate und einem
auswärtigen Staate entstehen. Es geschieht dies nicht im Sinne einer
Anerbietung guter Dienste oder eines von beiderseitiger Zustimmung
abhängigen Vermittelungsamtes oder Schiedsspruches oder gar im
Sinne einer Intervention. Vielmehr hat das Reich unmittelbar aus
seiner verfassungsmälsigen Schutzstellung zu verlangen, dals der Einzel-
staat einen jeden völkerrechtlichen Anspruch gegen den auswärtigen
Staat vor jeder eigenniächtigen Verfolgung zu seiner Vertretung ver-
stelle, dergestalt, dafs das Reich entscheidet, ob der behauptete An-
spruch zur Vertretung berechtigt sei oder nicht. In demselben Sinne
und kraft der Anerkennung, die das Reich in seinem Verfassungs-
bestand in der Völkergemeinschaft gewonnen hat, hat es aber auch
das Recht, von dem auswärtigen Staat zu verlangen, dafs er einen
behaupteten Anspruch gegen den Einzelstaat vor Ergreifung von Eigen-
macht an das Reich richte. Dasselbe ist alsdann wie berechtigt so
verpflichtet, einerseits den Einzelstaat eintretenden Falles und nötigen-
falls durch Exekution zu der Genugthuung anzuhalten, welche das
Völkerrecht dem fremden Staat zubilligt, andererseits jede dem Einzel-
staat zugefügte Verletzung des Rechtes oder der Würde als seine
eigene Rechtsverletzung zu betrachten und zum Austrag zu bringen !?.
b. Es folgt aber auch aus dem verfassungsmälsigen Gesamtver-
hältnis, dafs der Einzelstaat nicht berechtigt ist, sich dem Schutz-
rechte des Reiches zu entziehen. Er ist insbesondere nicht
befugt, den Schutz seiner Rechte, die Schlichtung völkerrechtlicher
Streitigkeiten oder die Sühnung zugefügter Verletzungen unter Um-
gsehung des Reiches durch das Nachsuchen einer Garantie oder Inter-
vention oder durch die Vermittlung oder durch den Schiedsspruch
auswärtiger Mächte herbeizuführen.
Nach dem allen besitzt nur das Reich und nicht der Einzelstaat
die rechtliche Selbständigkeit und Unabhängigkeit der auswärtigen
Handlungsfähigkeit, welche die vollkommene völkerrechtliche Per-
sönlichkeit ausmacht.
15 Dafs insbesondere jeder Angriff auf das Bundesgebiet oder dessen
Küsten, gleichgültig ob es sich der Absicht nach gegen das Reich als solches
oder gegen den Einzelstaat richtet, zur Kriegserklärung „im Namen des
Reiches“ berechtigt und verpflichtet, besagt ausdrücklich a. 11. Im übrigen
hatten die oben gezogenen Konsequenzen die Bundesakte und die Wiener
Schlufsakte im wesentlichen selbst für das losere Staatenbundsverhältnis ge-
zogen. B.A.a. 11. S.A. aa. 3648.