Full text: Deutsches Staatsrecht. Erster Band: Die Grundlagen des deutschen Staates und die Reichsgewalt. (1)

610 I. Buch. Die Reichsgewalt. 
mungen zu treffen, mithin auch die Vollziehung im Wege der Selbst- 
verwaltung vorzuschreiben, sei es durch Anordnung neuer Selbstver- 
waltungskörper, sei es durch Anknüpfung an die bestehenden. So ist 
mit der Kompetenz für das Gewerbe- und Versicherungswesen die 
Regelung der Innungen, der Hülfs- und Krankenkassen erfolst. Allein 
eine Befugnis des Reiches auch auf den der Kompetenz der Einzel- 
staaten vorbehaltenen Verwaltungsgebieten die gesetzliche Ordnuns 
der Selbstverwaltungskörper unter dem Titel des Vereinswesens zu 
bewirken, wäre, wenn auch von einem beschränkten Gesichtspunkte 
aus, doch die Unterwerfung der gesamten inneren Verwaltung der 
Einzelstaaten unter die Reichskompetenz. Eine solche Annahme 
widerspricht dem ganzen Zusammenhang der Verfassung. 
Die Vereinsklausel der Reichsverfassung schliefst aber auch die 
Regelung des Verhältnisses des Staates zu den Kirchen im 
technischen Sinne aus?®. Denn gerade das ist es, was das Wesen 
dieses Verhältnisses nach Malsgabe der historischen Entwickelung und 
des positiven Rechtes ausmacht, dafs dasselbe über die gemeingültigen 
Regeln des Vereinswesens hinausgehoben und als eine besondere und 
eigengeartete Rechts- und Pflichtstellung des Staates einerseits und 
der -Religionsgesellschaften andererseits konstituiert ist. Gerade darum 
gehen in den Verfassungen, welche die Vereinsfreiheit grundsätzlich 
anerkennen, stets neben den Bestimmungen über das Vereins- und 
Versammlungswesen besondere Bestimmungen über das Verhältnis zu 
den Religionsgesellschaften einher?. Nur solche Religionsgesellschaften, 
welche von diesem historischen Entwickelungsgange nicht ergriffen worden 
sind, welche es hinnehmen, dafs der Staat ihrem speecifischen Zwecke 
gleichgültig wie jedem andern Vereinszwecke gegenübersteht, sind der 
allgemeinen Regelung des Vereinswesens unterworfen; sie allein gelten 
im Sinne des positiven Rechtes als Vereine. Sonach ist mit den Be- 
stimmungen über das Vereinswesen die Kompetenz des Reiches nicht 
erstreckt auf die Regelung der specifischen Rechtsverhältnisse, 
welche zwischen den Einzelstaaten und den Religionsgesellschaften 
2 Dies ist auch die überwiegende Meinung in den Verhandlungen des 
Reichstages vom 1., 3. und 4. April 1871 über den Antrag Reichensperger auf 
Aufnahme von Grundrechten, insbesondere über Religions- und Kirchen- 
freiheit, in die Verfassung. $S. insbesondere die Ausführungen v. Stauffen- 
bergs, Sten. Berichte S. 140. Vergleiche auch den Bericht über die Jesuiten- 
petitionen in den Anlagen zu den Reichstagsverhandlungen von 1872 No. 64. 
Seydel, Kommentar S. 78 ff. 
3 D.R.V. von 1849 88 161. 162. 163 el. 147. Preufsische Verf. (ursprüng- 
licher Bestand) aa. 29. 30. 31. el. aa. 12—18. Oldenburgische Verf. aa. 50. 51. 
cl. 74-3831.
	        
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