Full text: Deutsches Staatsrecht. Erster Band: Die Grundlagen des deutschen Staates und die Reichsgewalt. (1)

$ 108. Das Vereinswesen. 611 
begründet sind oder begründet werden. Und noch weniger kann es 
irgend als Sinn und Absicht der R.V. angenommen werden, dals das 
Reich durch seine Kompetenz über das Vereinswesen berechtigt sei, 
jenes specifische Rechtsverhältnis zu den Religionsgesellschaften, welches 
sie zu Kirchen macht, allgemein in das allgemeine Verhältnis des 
Staates zu dem Vereinswesen aufzulösen. 
Zu der Regelung der kirchlichen Verhältnisse in diesem Sinne 
gehört auch die Regelung des Ordens- und Kongregationswesens der 
katholischen Kirche. Mae dasselbe nicht einen integrierenden und 
notwendigen Bestandteil ihrer Verfassung bilden, so ist es doch zweifel- 
los eine in die Gesamtorganisation der katholischen Kirche nach 
Zweck, Bildung und Leitung eingefügte Einrichtung, deren Rechts- 
stellung der Natur der Sache nach und überall im positiven Rechte 
nur im Zusammenhange mit dem das Verhältnis des Staates zu der 
katholischen Kirche beherrschenden Systeme bestimmt werden kann. 
Wenn daher zweifellos der Regierungsentwurf des Jesuitengesetzes ? 
sich innerhalb der Reichskompetenz hielt, weil er den Einzelstaaten 
nur Ermächtisungen zu Aufenthaltsbeschränkungen erteilen wollte, die 
sie um des Freizügiekeitsgesetzes willen nur vom Reiche empfangen 
konnten, so hat das Gesetz vom 4. Juli 1872 über den Orden der 
Gesellschaft Jesu, indem es den Entwurf zu einer teilweisen materiellen 
Regelung des Ordens- und Kongregationswesen umgestaltete, die durch 
den Begriff des Vereinswesens gezogenen Grenzen der Reichskompetenz 
ad hoc erweitert°. 
Nach dem allen unterliegen der Reichskompetenz diejenigen gesell- 
schaftlichen Verbindungen, welche zu den Aufgaben und zu der Organi- 
sation des Staates nicht in eine specifische Beziehung gesetzt sind. 
Es ist das Gebiet des freien Vereinswesens, dasselbe Gebiet, 
welches die R.V. von 1849 8 59 durch „Associationswesen“ bezeichnete. 
Die Regelung dieses Gebietes befalst die privatrechtliche Seite: 
die typischen Gestaltungen der verschiedenen Formen der Gesellschaften 
und korporativen Verbände, insbesondere auch die Feststellung der 
Voraussetzungen, unter welchen den letzteren die juristische Persön- 
lichkeit beigelegt wird; diese Seite ist jetzt gedeckt durch Ausdehnung 
der Reichskompetenz auf das gesamte bürgerliche Recht. Eine her- 
vorraeende gesetzgeberische Erscheinung bildet hier das Gesetz über 
* Sten. Ber. des Reichstages. 1872. Anlagen No. 170. Erweiterte Vor- 
schläge waren im Bundesrat auf Kompetenzbedenken gestolsen. 
5 Anderer Meinung die Antragsteller des Gegenentwurfes. Reichstags- 
sitzung vom 17. Juni 1872, Sten. Ber. S. 1060. v. Rönne, Staatsrecht d. 
d. R. I 194. 
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