$6. Das Verfassungsgesetz des deutschen Reiches. 53
Änderungen der vertragsmälsig festgestellten Bestimmungen nicht her-
beizuführen, sondern nur eine einheitliche, terminologisch in sich über-
einstimmende und gemeingültige Redaktion der deutschen Verfassung
zu bewerkstelligen. Nur an zwei! Punkten — an dem ersten
materiell, an dem zweiten nur formell — ist sie hiervon abgewichen.
Der durch den bayerischen Vertrag geschaffene Ausschufls des
Bundesrates für die auswärtigen Angelegenheiten wurde um zwei vom
Bundesrate zu wählende Bevollmächtigte verstärkt’.
Die Bestimmung, dals diejenigen Vorschriften der Reichsverfassung,
durch welche bestimmte Rechte einzelner Bundesstaaten in deren Ver-
hältnis zur Gesamtheit festgestellt sind, nur mit Zustimmung des be-
rechtigten Bundesstaates abgeändert werden können, hatte für Baden,
Hessen und Württeinberg nur in den Nebenverträgen Platz gefunden°.
Sie wurde jetzt in Verfolg des bayerischen Hauptvertrages unter V
als zweites Alinea des Artikel 78 in den Text der Verfassung ein-
gerückt.
Trotz seines wesentlich nur redaktionellen Inhaltes hat aber das
Gesetz vom 16. April 1871 die gewichtige Bedeutung, dals es über die
rechtliche Natur der Gründungsakte des deutschen Reiches, über das
Verhältnis, in welchem die deutsche Verfassung zu den vorhergehen-
den völkerrechtlichen Verträgen steht, über den formellen Rechtsgrund
der Geltung dieser Verfassung in endgültieer, über die Schwankungen
wissenschaftlicher Erörterungen hinausgehobener Weise entschieden
hat. Es folgt dies aus seinen positiven und negativen Festsetzungen.
I. Durch das Gesetz sind alle diejenigen Bestimmungen der No-
vemberverträge, welche die Absicht und die Bedeutung hatten, die
künftige Verfassung des deutschen Reiches festzustellen, aulser
rechtlicher Kraft gesetzt. Denn ein rechtsgültiges und rechts-
verbindliches Gesetz, welches bestimmte Ordnungen — hier die in
der beigefügten Verfassungsurkunde enthaltenen — „an die Stelle“
anderer Ordnungen — hier der Verfassung des deutschen Bundes in
dem badisch-hessischen Vertrage und der Hauptverträge mit Bayern
und Württemberg — „treten“ lälst, hebt diese letzteren, welcher Art
ı Dafs die Änderung des bayerischen Hauptvertrages sub II $ 4 al. 2
nur redaktionell war — entgegen der Ansicht von G. Meyer, Lehrb. d. d.
Staatsr. $ 68 —, darüber s. die Erklärung Delbrücks in der Reichstagssitzung
vom 5. Dez. 1870 (Sten. Ber. S. 70).
2 Vgl. II $ 6 des bayerischen Vertrages mit R.V. a. 8.
® Badisch-hessisches Protokoll No. 8; württembergische Verhandlung
No. 18.