60 I. Buch. Die Grundlagen des deutschen Staates.
Dasselbe löst alles, was formell Verfassung des Reiches ist, los von
den völkerrechtlichen Verträgen, welche seiner Zeit den Erstehungs-
grund für den norddeutschen Bund und alsdann für dessen Erweiterung
zum deutschen Reiche bildeten. Die Verfassung des Reiches ist auf
die Autorität eines gesetzgeberischen Aktes des Reiches gestellt.
Ausschlief[slich und allein kraft Reichsgesetzes und
als Reichsgesetz hat die deutsche Reichsverfassung
Rechtsgültigkeit und Rechtsverbindlichkeit°%.
zahlreichere Verfassungsänderungen ohne Beurkundung im Texte hergehen, sind
später bewirkt worden durch
Gesetz vom 24. Februar 1873 über die Abänderung des Art. 28 d. R.V.
(Aufhebung der Bestimmung über Nichtzählung der Reichtagsmit-
glieder aus den exemten Staaten bei Beschlufsfassungen über eine
Angelegenheit, die nach der Verfassung nicht dem ganzen Reiche
gemeinschaftlich ist);
Gesetz vom 3. März 1873 über einen Zusatz zu dem Art. 4 No. 9d.R.V.
(Erstreckung der Reichskompetenz auf Schiffahrtszeichen);
Gesetz vom 20. Dezember 1873 über die Abänderung der No. 13 des Art. 4
d. R.V. (Erstreckung der Reichsverfassung auf „das gesamte bürger-
liche Recht“);
Gesetz vom 11. Februar 1888 über Änderungen der Wehrpflicht (Änderung
des a.59 al. 1 d.R.V. durch Einführung der Landwehr zweiten Auf-
gebotes und Streichung der Übergangsbestimmung);
Gesetz vom 19. März 1888 über Abänderung des Art. 24 d.R.V. (Verlänge-
rung der Legislaturperiode von 3 auf 5 Jahre).
2° Seydel, wie in(seiner Abhandlung über den Bundesstaatsbegriff —
Tübinger Zeitschr. 1872 S. 185 ff. —, so in seinem Kommentar zur Verfassungs-
urkunde, insbesondere $. XV u. 14, behauptet, dafs die Reichsverfassung ein
Doppeltes sei: 1. ein Vertrag zwischen den Staaten, 2. ein Landesgesetz in
den einzelnen vertragschliefsenden Staaten, nicht aber das Gesetz eines von
den Einzelstaaten verschiedenen politischen Gebilde. Nach 1 wird die Fort-
dauer der formellen Geltung der Novemberverträge und beziehentlich der
Verträge der norddeutschen Staaten, ‚welche die Verfassung feststellen, be-
hauptet. Aber diese Behauptung ist ein so vollkommener Widerspruch mit
dem klaren und unzweideutigen Wortlaut des — in seiner Gültigkeit auch
von Seydel nicht angezweifelten — Gesetzes vom 16. April 1871, dafs er, wie
jeder solcher Widerspruch, einer Widerlegung weder fähig noch bedürftig ist.
Gegenüber der Behauptung 2 enthält die Verfassung Bestimmungen — und zwar
gerade die die Organisation und Wirksamkeit desReiches ausmachenden —, welche
möglicherweise zwar Gegenstand eines völkerrechtlichen Vertrages zwischen
mehreren Staaten, niemals aber die einseitigen Anordnungen eines Landes-
gesetzes ihrer Natur nach sein können. Denn Gesetz kann nur sein, was der
Staat seinen Organen und Unterthanen anbefehlen kann. Bayern kann aber
z. B. nicht befehlen, dafs der Bundesrat aus so und so viel Mitgliedern be-
stehen und in diesen oder jenen Formen, in diesen oder jenen Angelegen-
heiten Beschlüsse fassen soll. Überdies ist selbst rein formell die Auffassung