770 II. Buch. Die Reichsgewalt.
einmal die Stimmenthaltung der Parteien selbst erzwingen kann, dessen
Beschlufsweise durch das verschiedene Gewicht der Stimmrechte jeden
Beschlufs notwendig und der Absicht nach zum Ausdrucke der poli-
tischen Machtverhältnisse steınpelt, dessen Gestaltung also das genaue
Gegenteil zu allen den Anforderungen bildet, welche an die Organi-
sation und das Verfahren einer wahren Rechtspflege gestellt sind.
Aber diese thatsächliche Gestaltung der Dinge deckt sich nicht
mit dem verfassungsmälsigen Rechte, welches dem Reiche in Absicht
auf eine organische Rechtspflege zusteht. Im Gegenteil —, die
mangelnde Ausbildung der letzteren bildet einen Gegensatz zu der
Entwickelung der anderen Zweige der Rechtspflege.
Abgesehen von einzelnen Gebieten, die verfassungsmälsig der
eigenen und unmittelbaren Verwaltung des Reiches zufallen, waren
die Rechte des Reiches ursprünglich beschränkt auf die Beaufsich-
tigung und die gesetzgeberische Regelung der Rechtspflege der Einzel-
staaten. Nur in Erweiterung seiner Kompetenz konnte sich das Reich
für die Privat- und Strafrechtspflege und für einzelne Zweige der
Verwaltungsrechtspflege eine eigene Gerichtsbarkeit schaffen. In
schneller Entwickelung hat die Gesetzgebung die Fesseln der Ver-
fassung gesprengt. Umgekehrt aber liegt es auf dem Gebiete der
organischen Rechtspflege. Hier ist die Gesetzgebung zurückgeblieben
hinter der verfassungsmäfsigen Kompetenz.
Denn das Recht des Reiches, die organische Rechtspflege in allen
den Anwendungen, die durch den Thatbestand des Bundesstaates gegeben
werden, auszugestalten, ist verfassungsmälsig begründet in der Orga-
nisationsgewalt des Reiches, in der Natur der einschlagenden Rechts-
streitigkeiten, deren Schlichtung für das Reich notwendig ist und doch
aulserhalb der Rechts- und Machtsphäre des Einzelstaates liegt, end-
lich aber auch in dem Wortlaut der zutreffenden Verfassungsklauseln,
die an anderer Stelle ihre Erörterung gefunden haben?. Es ist Sache
der einfachen Gesetzgebung, den Anforderungen zu genügen, welche
an diesem Punkte das Wesen des Rechtsstaates überhaupt, die Natur
des Bundesstaates insbesondere und nicht zuletzt die historische Tra-
dition in Deutschland erheben.
2.8.88 95. 96.