776 II. Buch. Die Reichsgewalt.
der Praxis, so in der Litteratur eine Vertretung nicht mehr ge-
funden ?.
Hiermit ist denn die Kompetenz-Kompetenz, als Ermächtigung
des Reiches, im gesamten Umfange der Verfassung begründet.
Sie hat zum Gegenstande sowohl die Abgrenzung der Rechts-
sphäre des Reiches und der Einzelstaaten, als auch die Formen ihres
Zusammenwirkens. Bei ihr liegt es, den Katalog der Angelegenheiten,
die die Verwaltung des Reiches bezeichnen, zu vermehren oder um-
gekehrt zu vermindern, die Mitwirkungsrechte der Einzelstaaten auf-
zuheben oder zu erweitern, ja selbst den jetzt geltenden Grundsatz,
clals alles, was dem Reiche nicht nachweisbar zugeschrieben ist, den
Einzelstaaten vorbehalten bleibt, in sein Gegenteil zu verkehren.
Die Kompetenz-Kompetenz bezieht sich nicht minder auf alle
organisatorischen Bestimmungen der Verfassung. Damit er-
greift aber die Organisationsgewalt des Reiches, ausgeübt in den
Formen der Verfassungsänderung, alles, was auf Grund der be-
stehenden Verfassung das Wesen des Bundesstaates ausmacht, mithin
den Bestand des Bundesstaates selbst, mag man seine Umwandelung
in den Einheitsstaat, oder seine Rückbildung in den Staatenbund,
oder seine Auflösung in ein unverbundenes Nebeneinander der Einzel-
staaten ins Auge fassen.
In logisch notwendiger Konsequenz aus Wortlaut und Sinn des
R.V. a. 78 ergiebt sich der Verfassungssatz: Die Kompetenz-
Kompetenz des Reiches findet in der Verfassung selbst
keine rechtliche Begrenzung.
Aber allerdinss — damit ist die rechtliche Möglichkeit nicht
ausgeschlossen, dafs aufserhalb und neben der Verfassung eine
andere Rechtsquelle bestünde, welche Rechtssätze von gleicher Kraft und
Geltung begründet, wie die Verfassung selbst, und welche eben darum
die Begrenzung der Kompetenz-Kompetenz bewirkt, die aus der Ver-
fassung selbst nicht zu gewinnen ist. Eine solche Rechtsquelle kann
nach Lage der Sache nur gesucht und gefunden werden in einem
Vertrage, welcher in einseitig nicht lösbarer Weise das Reich im
Verhältnis zu den Einzelstaaten bindet. Er würde inhaltlich ein ver-
tragsmälsiges Garantieverhältnis begründen, welches den Einzelstaaten
ihre Existenz und eine irgend wie bestimmte Rechtsstellung gegenüber
dem Reiche zusichert.
Unter dieser Voraussetzung ist die Reichsverfassung umgeben von
einem Vertragsverhältnisse, das ihre Änderung nur innerhalb der
2 Hänel, Studien I 156 ff.