784 I. Buch. Die Reichsgewalt.
Mehrheit beider mit dem Mehrheitsbeschlufs der Bundesversammlung
erforderlich ist?®.
Endlich treten noch anderweitige hemmende Bedingungen hinzu.
Allerdings in der Schweiz nur in dem Falle, wenn bei der Total-
revision der Bundesverfassung die beiden Räte der Bundesversamm-
lung dissentieren oder wenn der Revisionsantrag von 50 000 stimm-
berechtigten Bürgern ausgeht, oder wenn bei der Partialrevision
die allgemeine Volksanregung die Zustimmung der Bundesver-
sammlung nicht findet.: Hier muls alsdann die Vorfrage, ob eine
Revision stattzufinden habe, der Schweizer Bürgerschaft zur Entschei-
dung nach einfacher Majorität vorgelest werden und es müssen im
Bejahungsfalle einer Totalrevision die Räte behufs deren Vornahme
neugewählt werden. Dagegen in der Union bedarf es zu jeder Ver-
fassungsänderung einer verstärkten, nämlich einer ?/s Majorität in
jedem Hause des Kongresses. Ja in einem Falle, dann, wenn es sich
um die Änderung des gleichen Stimmrechtes der Staaten im Senate
handelt, kann die Verfassungsrevision nur mit Zustimmung jedes ein-
zelnen betroffenen Staates Gültigkeit gewinnen. Hier, so sagt der
„Federalist“ Nr. 43, liegt das „Palladium“ für die „Souveränetät“, für
die Existenz der Einzelstaaten.
In allen diesen erschwerenden Formen — die Beteiligungsrechte
der Einzelstaaten als solcher bringen dies zum unzweideutigen. Aus-
drucke — tritt vor allen anderen das legislatorische Motiv hervor, den
Einzelstaaten für ihre Existenz und für ihren verfassungsmälsigen
Wirkungskreis ausreichenden und ausgiebigen Schutz gegen den schnellen
Wechsel, gegen Grenzverwischungen und gegen einseitige Erweite-
rungen der Bundeskompetenz zu gewähren.
Unter diesem Gesichtspunkte und in diesem Vergleiche weisen
die Bestimmungen der Reichsverfassung ein durchaus eigentüm-
liches und nahezu gegensätzliches Gepräge auf.
I. Die Reichsverfassung schreibt auch für Verfassungsänderungen
den Weg der Gesetzgebung vor, d. h. sie erklärt auch für diese
nach a. 2 die Übereinstimmung der Mehrheitsbeschlüsse des Bundes-
rates und des Reichstages für erforderlich, aber auch für „ausreichend“.
Sie verlegt damit jeden Einfluls der Einzelstaaten innerhalb ein
Organ des Reiches, dessen Träger sie ernennen und instruieren. Sie
kennt und duldet auch für verfassungsändernde Gesetze keine Mit-
3 Hierbei gilt die Mehrheit der in jedem Kantone bei der Volksabstim-
mung abgegebenen Stimmen als dessen „Standesstimme“. Über Wegfall des
Erfordernisses der Zustimmung der Bundesversammlung bei Partialrevisionen
s. die vorhergehende Note.