Full text: Deutsches Staatsrecht. Erster Band: Die Grundlagen des deutschen Staates und die Reichsgewalt. (1)

790 I. Buch. Die Reichsgewalt. 
Nur diese Auffassung macht es erklärlich, dafs: das Zutreffen der 
geforderten Majorität des Bundesrates auch bei zweifellosen und aner- 
kannten Verfassungsänderungen weder in den Vorlagen an den Reichs- 
tag noch auch in den Gesetzestexten bekundet wurde. Auskunft hierüber 
ist in den parlamentarischen Verhandlungen nur erteilt worden auf 
zufällige Anfragen hin und in denselben Formen, wie über jedes 
andere Motiv für die Annahme oder Ablehnung eines Gesetzentwurfes. 
Nur sie kann es dulden, dafs verfassungs- und kompetenzändernde 
Bestimmungen mit den einfach gesetzlichen Bestimmungen, welche die 
bereits bewirkte Verfassungsänderung zur Voraussetzung haben, in 
einen ununterschiedenen Gesetzestext zusammengeworfen werden. 
Denn die Ungeschiedenheit verneint es, dafs die Verschiedenheit der 
für die einzelnen Bestandteile des Gesetzes geforderten Formen nach 
erfolgter Annahme des Ganzen durch den Bundesrat eine weitere 
rechtliche Relevanz besitze. Läfst es doch selbst die Annahme eines 
so gemischten Gesetzentwurfes gegen eine Minorität von 14 Stimmen 
im Bundesrate nicht erkennen, ob die Minoritätsabstimmung einen 
Widerspruch gegen die Kompetenzänderung als solche, oder nur die 
Ablehnung der einfach gesetzlichen Modalitäten bedeutet — voraus- 
gesetzt, dals die Vorfrage der Verfassungsänderung nicht ausdrücklich 
zur Entscheidung verstellt worden ist. 
Und diese Auffassung ist es denn auch, die durch eine Reihe 
von Erklärungen sowohl der verbündeten Regierungen als aus dem 
Reichstage ausdrücklich und ohne jede Kontestation anerkannt wor- 
den ist®. 
8 Kommissionsbericht über den Antrag Schulze-Delitzsch, betr. 
die privatrechtliche Stellung von Vereinen, Sten. Ber. des Reichstages von 
1869 No. 273. Man war zweifelhaft, ob der Entwurf in die Kompetenz des 
Bundes fiele, allein man war einig: „dafs es einer Entscheidung der Frage 
nicht bedürfe“. Da nämlich die nach a. 78 der Bundesverf. zulässigen Ver- 
fassungsänderungen ohne Zweifel auch in der Form erfolgen können, dals 
einzelne über die Kategorieen des a. 4 hinausgreifende Gesetze geschaffen 
werden, der Reichstag aber für die Beschliefsung solcher Gesetze an keine 
andere Form gebunden ist, als an die Form der gewöhnlichen auf a. 4 sich 
gründenden Gesetzgebung, so ergiebt sich hieraus, dafs für den Reichstag 
die Frage, ob ein Gesetz innerhalb oder aufserhalb des Rahmens des a. 4 
liege, von keiner praktischen Bedeutung ist, diese Frage vielmehr 
nur für den Bundesrat bezüglich der Entscheidung der Frage, ob das 
betreffende Gesetz nur einfacher Stimmenmehrheit oder einer Mehrheit von 
2/3 der vertretenen Stimmen bedürfe, von Erheblichkeit wird. — Verhandlungen 
des Reichstages vom 22. Januar 1885 über den Entwurf eines Postsparkassen- 
gesetzes. Abg. Ackermann — Sten. Ber. S. 793 —: „Ich weils, dafs die 
Frage wegen Abänderung der Verfassung nunmehr, da der Bundesrat die
	        
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