Full text: Deutsches Staatsrecht. Erster Band: Die Grundlagen des deutschen Staates und die Reichsgewalt. (1)

$ 135. Die Staatsart des Reiches. 795 
der unter ihm begriffenen Gesellschaft sind, wenn es aber auch nicht 
ausschliefslich auf Einzelstaaten, sondern auch unmittelbar auf Individuen 
wirkt, die nicht minder durch seine Aufgaben ergriffen werden, wenn 
es endlich in planmälsiger Kombination beide Wirkungsweisen ver- 
einigt, indem es bei der Durchführung und Durchsetzung der unmittel- 
baren Rechtsverbindlichkeiten, die es erzeust, sich des Mittels der 
Einzelstaaten bedient —, so bewährt sich auch hierin das mit dem 
Einheitsstaate gleichartige Wesen des Reiches. 
3. Beides — die materiellen wie die formellen Kompetenzen — 
stehen dem Reiche zu ausschliefslich und allein kraft der Reichsver- 
fassung, die sein eigenes Gesetz ist, und zu eigenem Rechte. 
Damit ist eine Auffassung ausgeschlossen?, welche die Reichs- 
gewalt als die Summe der Kompetenzen betrachtet, die zu eigenem 
Rechte den 25 suveränen Staaten zustehen und von diesen dem Reiche 
nur zu gemeinsamer Ausübung vertragsmälsig übertragen sind, eine 
Auffassung, welche foleerichtig den Bund für identisch mit der Summe 
koordinierter Einzelstaaten, die Reichsverfassung und die Reichsgesetze 
für eine Summe von Partikulargesetzen mit übereinstimmendem In- 
halte, die Reichsangehörigkeit lediglich für eine besondere Gestaltung 
der Einzelstaatsangehöriekeit erklärt. Sie hat zur obersten und ersten 
Voraussetzung die rechtliche Fortdauer eines völkerrechtlichen 
Vertrages, kraft dessen alle jene behaupteten Wirkungen begründet 
werden und bei dessen Mangel alle jene Folgerungen sinnlos werden?®. 
Diese oberste und erste Voraussetzung trifft aber für das deutsche 
Reich nicht zu. Die Reichsverfassung hat alle jene Verträge, welche 
die geforderte Deutung allein zulassen könnten, nach Wortlaut und 
Absicht des Gesetzes vom 16. April 1891 in ihrer rechtlichen Geltung 
und Verbindlichkeit aufgehoben. 
Ausgeschlossen ist auch die Auffassung, welche aus der histo- 
rischen Entstehung des Reiches? aus Verträgen suveräner 
Staaten folgert, dals für die Einzelstaaten die Suveränetät „an sich, 
der Substanz nach ungeschmälert fortbesteht“ und dafs die dem Reiche in 
der Verfassung zugeschriebenen Kompetenzen nur „die Ausübung der 
2 Die Doktrin M. Seydels. S. $ 31 Note 1. 
3 Vollkommen zutreffend sagt Seydel, Kommentar S. 5: „Wenn uns 
also jemand in einem gegebenen Falle die Behauptung ent- 
gegenstellte, es sei ein Bundesvertrag durch ein Gesetz ver- 
drängt worden, so werden wir daraus mit vollem Rechte folgern 
dürfen, dafs der Bund nicht mehr vorhanden sei und dafs das 
Gebiet, in dem das Gesetz herrscht, einen Staat bilde.“ 
* Der Standpunkt v. Sarwey, Staatsr. d. Kgr. Württemberg I 34 ff.
	        
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