$ 138. Die rechtliche Natur der Exemtionen. 811
oder in jenen Nebenverträgen, die durch $ 3 des Gesetzes
vom 16. April 1871 neben und in Modifikation der Verfassung in
unveränderter Geltung erhalten sind.
Daeegen kennt die Reichsverfassung keinerlei Ermächtigung irgend
welcher Art, um in der Form eines einfachen Gesetzes, einer Ver-
ordnung. oder einer Verfügung oder in der Form irgend eines Ver-
trages mit den Einzelstaaten Exemtionen, d.h. objektivrechtliche Aus-
nahmen von den gemeingültigen Verfassungsbestimmungen über die
Reichskompetenz zu schaffen und damit Reservatrechte über die aus
der Verfassung und den Nebenverträgen nachweisbaren hinaus zu be-
gründen, d. h. solche subjektive Rechte einzelner Gliedstaaten, welche
nicht blofs besondere Gewährungen unbeschadet und unter Vor-
behalt, sondern gegen und unter Aufhebung der gemeingültigen
Reichskompetenz sind. Jeder dahin zielende Rechtsakt ist null und
nichtig. Jede in irgend welcher Form an einen Einzelstaat erfolgte
besondere Gewährung steht selbstverständlich unter dem Vorbehalte
der ungeschmälerten, aus der Verfassung sich ergebenden Kompetenzen
des Reiches, d. h. sie vermag dessen Rechte zur Gesetzgebung und
zur Veror dnung keine formelle rechtliche Schranke zu ziehen.
2. Aus der Verfassungsmälsigkeit aller Exemtionen folgt weiter-
hin, dafs sie nur auf demselben Wege abgeändert oder aufgehoben
werden können, auf dem sie entstanden sind.
a. Verfassungsgesetzliche Exemtionen als solche be-
dürfen zu diesem Behufe eines Verfassungsgesetzes. Jedoch ist damit
über die Möglichkeit, wie die subjektiven Reservatrechte der
rechtlichen Änderung unterliegen, nichts ausgesagt. Vielmehr ist in
dieser Rücksicht nach Inhalt und Absicht der Verfassungsbestimmungen
zu unterscheiden.
Die Exemtionen können nämlich unbedingte sein. D. h. sie
können in der Form von Vorschriften auftreten, welche nicht nur auf
die Begründung eines subjektiven Vorrechtes reflektieren, sondern zu-
sleich die Reichskompetenz als eine das Interesse und das Recht der
Gesamtheit angehende Bestimmung modifizieren. Hier sind Ver-
fügungen über das subjektive Recht, insbesondere Verzichte nur wirk-
sam als Motive für das gesetzgeberische Vorgehen des Reiches, aber
sie haben nicht die Kraft, die Verfassungsvorschrift obne weiteres
und vor Erlafs des abändernden Verfassungsgesetzes aulser Anwendung
zu setzen.
Die Exemtionen können aber auch nur bedingte sein. Sie
haben alsdann nicht die Absicht, die Kompetenz des Reiches als solche
zu verneinen, sondern nur die andere Bedeutung, die Ausübung