Full text: Deutsches Staatsrecht. Erster Band: Die Grundlagen des deutschen Staates und die Reichsgewalt. (1)

$ 140. Der Schutz der Reservatrechte. 821 
Gesetzgebung über eine Angelegenheit durch die Begründung des Sonder- 
rechtes dergestalt beschränkt wird, dafs jeder spätere, das Sonderrecht be- 
rührende Gesetzgebungsakt ohne Zustimmung des Einzelstaates inkompe- 
tent ist. 
Beides aber widerspricht schlechthin der Reichsverfassung. 
Dieselbe hat die Bedingungen für die Rechtsgültigkeit eines Gesetzes 
selbstverständlich, aber überdies in ausdrücklicher Dokumentierung dieser ihrer 
Absicht, mit Vollständigkeit festgestellt. Sie schreibt vor, dafs die Über- 
einstimmung der Mehrheitsbeschlüsse „beider Versammlungen“ zu einem 
Reichsgesetze erforderlich und „ausreichend“ ist. Sie thut dies in zweifel- 
loser Rücksicht auf die ehemalige Bundesverfassung, welche zu Bundes- 
beschlüssen bald Einstimmigkeit, bald die freie Zustimmung der „Beteiligten“ 
forderte — B.A. a. 7, W.S.A. a. 15 —. Sie hat diejenigen Fälle, in denen 
ausnahmsweise besondere Erschwerungen der Majoritätsbildung eintreten 
sollen, in specialisierten Klauseln festgestellt — R.V. a. 5 al. 2, a. 7 al. 3 
u.4—. Hieraus folgt: Jede Bestimmung des Reiches, welche die Kraft haben 
soll, die Rechtsgültigkeit irgend eines Aktes der Gesetzgebung an irgend 
welches andere Erfordernis, als in der Verfassung vorgesehen ist, zu binden, 
kann nur in der Form der Verfassungsänderung selbst oder auf Grund einer 
verfassungsändernden Ermächtigung ergehen. 
Nicht minder sind die Kompetenzen des Reiches Verfassungs- 
gesetz. Hieraus folgt nicht minder: jeder Akt des Reiches, welcher es zur 
Absicht hat, die Ausübung der Reichskompetenz zur Gesetzgebung irgend- 
wie formell oder materiell zu beschränken, kann nur auf Grund und in der 
Form einer Verfassungsänderung rechtsgültig sein. 
Aus beiden Gliedern ergiebt sich die unweigerliche, weitere Schlulsfolge- 
rung: Sonderrechte im Sinne Labands, welche die Rechtsgültigkeit ändernder 
Reichsgesetze an das Erfordernis der Zustimmung des beteiligten Einzelstaates 
binden, können sich ausschliefslich und allein stützen entweder auf Vor- 
schriften der Verfassung oder auf solche Verträge des Reiches mit den Einzel- 
staaten, welche zur Gleichwertigkeit mit der Verfassung in zutreffenden 
Formen erhoben worden sind. Dagegen können ihrem Inhalte nach sonder- 
rechtliche Gewährungen, welche nur durch einfache Gesetze oder durch 
Bundesratsbeschlüsse oder durch einfache Verträge begründet sind, niemals 
die Kraft und die Deutung formeller, d.h. die verfassungsmäflsigen Kompe- 
tenzen und Gesetzgebungsformen durch irgend welche Zustimmungsrechte 
alterierender Sonderrechte gewinnen. 
Wenn sich Laband gegen diese logisch-juristisch notwendigen Konse- 
quenzen auf die andere Auffassung der bei der Reichsgründung beteiligten 
Staatsmänner Delbrück und von Friesen beruft, sowie darauf, dafs die Proto- 
kolle zu den Verfassungsverträgen die hier fraglichen Zustimmungsrechte der 
Einzelstaaten als „selbstverständlich“ erklärten, so ist damit — abgesehen da- 
von, dafs die Selbstverständlichkeit nur auf „Verfassungsbestimmungen“ be- 
zogen worden ist — nur bewiesen, dafs sich die beteiligten Staatsmänner in einem 
schweren Irrtum befanden. Sie übersahen die fundamentale Änderung der 
Rechtslage gegenüber den ehemaligen Bundesverhältnissen, an der sie selbst 
arbeiteten. Denn das, was für den deutschen Bund zulässig und selbstver- 
ständlich war, ist das genaue Gegenteil für ein suveränes Staatswesen. Und 
dies übersieht auch Laband. Schlechterdings kann er seine Auffassung nicht
	        
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