76 I. Buch. Die Grundlagen des deutschen Staates.
gesellschaftlichen Einflüssen ihre vernunftgemälse, fortschreitende Aus-
gestaltung empfangen und empfangen können.
In diesem Betracht bleibt der Standpunkt berechtigt, die sinnliche
Leibesbeschaffenheit, wie die grofsen und höheren Erscheinungen der
Sprache, des Rechtes, der Wissenschaft, der Kunst, der Wirtschaft
und der Technik, der Religion und der Sittlichkeit, kurz alles das,
was wir die Kultur eines Volkes nennen, als das Erzeugnis der Ge-
sellschaft, als das Ergebnis des gesellschaftlichen Zusammenwirkens
aufzufassen.
Auch der Staat ist Gesellschaft und auch er hat an ihren Wir-
kungen teil. Aber er ist nicht die Gesellschaft schlechthin, sondern
eine besondere und eigentümliche Weise derselben.
Wenn wir im Anschlufs an die hergebrachte und unverbesser-
liche Weite des Wortes eine Organisation jede Zusammenstellung
relativ selbständiger Elemente nennen, welcher als Ursache wir eine
Gesamtleistung nachsagen, so weist die Gesellschaft verschiedene Formen
der Organisation auf. Der Staat ist nur eine unter anderen Organi-
sationsformen der menschlichen Gesellschaft. Sein Wesen findet seine
begriffliche Bestimmung in der Gleichartigkeit und in dem Unter-
schiede, die ihn im Vergleiche mit diesen anderen Organisationsforımen
charakterisieren.
Die Organisationsformen der menschlichen Gesellschaft nun aber
zerfallen in zwei grofse Kategorieen: die der freien Anpassung und die
der Herrschaft.
I. Der Prozels der freien Anpassung befafst als seine
Elemente alle die einzelnen gesellschaftlichen Zusammenhänge, welche
kraft der eigenen Einsicht, der eigenen Wertschätzung und der eigenen
Entschliefsung der daran beteiligten Individuen gestiftet werden. Nicht
als ob sie darum willkürliche und zufällige wären. Sie sind überall
begründet durch die Nötigungen, die in der Natur des Menschen und
seiner Lebensbedingungen angelegt sind, nur dafs in der psychologi-
schen Lage des Individuums sich diese Nötigungen nicht als der Zwang
einer äufseren Autorität, sondern als die Motivierungen seiner Selbst-
bestimmung geltend machen.
Vom Standpunkte des Rechtes aus empfängt ein grolser und be-
deutsamer Teil der gesellschaftlichen Beziehungen, die der freien An-
passung angehören, nicht die Form rechtlicher Bindungsverhältnisse.
Das gilt von den unwillkürlichen Einflüssen, welche die anschaulichen
Thatbestände der Gesellschaft. welche die gefestigten Niederschläge
der Kultur in Darstellungsmitteln und Werken ausüben. Hier waltet
die freieste, einseitige Aneignung vorgethaner gesellschaftlicher Arbeit.