Die einzelnen Bestimmungen der deutschen Reichsverfassung. 155
endung zu bringen, sondern der Bundesstaat selbst ist diese
Vollendung.
Diese verschiedene Auffassung muss nothwendig in den
Formen der Verfassungs- und insbesondere der Kompetenz-
änderungen des Bundesstaates ihren rechtlichen Ausdruck
finden.
Im ersten Falle wird jede solche Aenderung, wenn nicht
ausschliesslich an den Vertrag, doch wesentlich an die Rechts-
handlung der Einzelstaaten als solcher gebunden sein.
Im zweiten Falle wird sich der Bundesstaat in freier Er-
wägung dem vollen Staatszwecke gegenüberstellen. Er selber
wird es sein, der die zweckmässige Vertheilung der Aufgaben
zwischen dem Gesammtstaat und den Einzelstaaten vollzieht
und verbürgt, der sie im Wechsel der thatsächlichen Voraus-
setzungen und der Anforderungen der Nation einer erneuten
Prüfung unterzieht und ändert. Er wird sich damit als eine
übergreifende Potenz auch im Verhältniss zu der Rechtssphäre
erweisen, welche die Verfassung dem Einzelstaate zuschreibt.
Die Beantwortung der Frage nach den Verfassungs- und
Kompetenzänderungen wird zum wesentlichsten Theile die
Beantwortung der andern Frage enthalten, ob der Bundesstaat
diejenige Bedingung einheitlicher Ordnungauch gegenüber dem
rechtlichen Anspruch der Einzelstaaten auf verfassungsmässige
Selbständigkeit erfüllt, welche uns allein gestattet, den Be-
griff des Staates im Bundesstaate wieder zu finden.
Allein nicht allgemeine Erörterungen, nicht Schlussfolge-
rungen aus einem aufgestellten typischen Begriff, welcher,
über vereinzelten thatsächlichen Erscheinungen abgezogen,
eine genügende Bürgschaft für die Geltung der in ihn aufge-
nommenen Merkmale im einzelnen Falle nicht gewährt, son-
dern allein die Bestimmungen der Verfassung, ihr Wortlaut,
ihr Sinn und Zusammenhang können die Entscheidung bringen.
Unter diesen Gesichtspunkten betrachten wir den Artikel
78 der deutschen Reichsverfassung.