156 Drittes Kapitel.
II. Das erste Alinea des Artikel 78 der deutschen Reichsverfassung.
- g11.
Wenn es von entscheidender Bedeutung für, die politische
und rechtliche Charakteristik eines Bundesstaates ist, ob und
in welcher Weise eine Aenderung seiner Verfassung rechtlich
möglich ist, so war es durchaus sachgemäss, dass die ein-
schlagenden Bestimmungen der neuen Bundesverfassungen in
Deutschland sofort bei ihrer Einführung einer lebhaften Er-
örterung unterzogen wurden.
Die Frage ist aufgeworfen und allseitig diskutirt zur Zeit
des norddeutschen Bundes und für seine Verfassung. Sie ist
mit der Entstehung des deutschen Reiches und unter seiner
Verfassung definitiv entschieden worden.
Trotz dieser Entscheidung rechtfertigt die Wichtigkeit
des Gegenstandes einen Rückblick auf die Zeit des nord-
deutschen Bundes und auf die Momente, welche die Entschei-
dung der Frage herbeigeführt haben.
Der Artikel 78 der norddeutschen Bundesverfassung
lautete einfach: „Veränderungen der Verfassung erfolgen im
Wege der Gesetzgebung, jedoch ist zu denselben im Bundes-
rathe eine Mehrheit von zwei Dritteln der vertretenen Stimmen
erfoderlich.*
Nach zwei Richtungen hat man versucht dem allgemeinen
Wortlaut des Artikels Schranken zu ziehn, insbesondere dann
wenn es sich um Erweiterungen der in der Verfassung dem
norddeutschen Bunde eingeräumten Kompetenzen handelt.
In eigenthiimlicher Weise unternahm dies der Antrag des
Grafen zur Lippe in der Session des preussischen Herren-
hauses 1869—70. Wenn derselbe auch allgemein dahin
lautete, „dass die k. Staatsregierung zu ersuchen sei, dem
entgegen zu wirken, dass Aenderungen der Verfassung des
norddeutschen Bundes, soweit durch dieselben zugleich Aen-
derungen der preussischen Verfassungsurkunde herbeigeführt
werden, ohne Zustimmung der preussischen Landesvertretung