Die einzelnen Bestimmungen der deutschen Reichsverfassung. 179
Diese Tendenz ist unvereinbar mit den Vorschriften der
Reichsverfassung. .
Artikel 78 schreibt für jede nach seinem Alinea 1 zuläs-
sige Verfassungsänderung lediglich den Weg der Gesetzgebung
vor mit der einzigen Modifikation, dass dieselbe als abge-
lehnt gilt, wenn sie im Bundesrathe 14 Stimmen gegen sich
hat. Damit ist ausser dieser Modifikation ein solches Verfas-
sungsgesetz an keine andere Bedingung seiner Gültigkeit ge-
Begründung des Antrages in seinen Motiven, in dem Komissionsbericht und
den Kammerverhandlungen schiebt demselben überall die rechtliche Auffassung
des zu Reichskompetenzerweiterungen nothwendigen Vertrages unter und
deduzirt die Ungültigkeit eines Reichsgesetzes dieses Inhaltes für Baiern,
wenn nicht die vorgängige Genehmigung des bairischen Landtages stattfand.
Demgemäss beantragte Sedlmayr dem Antrage folgenden$ 4. hinzuzufügen:
„Jedes Reichsgesetz, durch welches ein in den Versailler Verträgen vom
November 1870 dem Staate Baiern vorbehaltenes Verfassungsrecht‘‘ (also
nicht blos unter a. 78 al. 2 fallendes Sonderrecht) ‚‚berührt wird, ist für
Baiern ohne Geltung, wenn nicht vorerst hierzu die Zustimmung des bairischen
Landtages erfolgt ist‘‘. Allein das ist in Wirklichkeit kein Amendement zum
Antrag Schüttinger in seinem strengen Wortlaut, sondern ein Gesetzentwurf
ganz andern Inhaltes, der freilich die Tendenz des Antrages Schüttinger
klar stellte. Bei der Abstimmung am 9. Februar 1872 wurde der $ 1 mit dem
Amendement Huttler mit 76 gegen 72 angenommen, galt aber wegen nicht
erfüllter, zu Verfassungsgesetzen nothwendigen ?/; Majorität als abgelehnt;
hiernach wurde auch der in der Fassung den $ 1. modifizirende Ausschussan-
trag mit 75 gegen 73 Stimmen abgelehnt. Das Gesetz war damit gefallen,
der Antrag Sedimayr ohne Abstimmung erledigt. — Verhandlungen der Kam-
mer der Abgeordneten des bairischen Landtages 1871/72 Beilagen, Band I.
pag. 527. Band II. pag. 169 ff. 175. 222. Sten. Ber. Band I. pag. 108 ff.
455 ff. — Riedel, die Reichsverfassungsurkunde pag. 163 sagt: ‚‚Die
Frage, ob die Zustimmung zu einer nach a. 78 Abs. 1 zu behandelnden Ver-
fassungsänderung von den Landesregierungen in eigener Kompetenz erklärt
werden könne oder ob hierzu eine Ermächtigung der gesetzgebenden Faktoren
nothwendig sei, ist nach dem Landesrecht der Einzelstaaten zu beurtheilen‘‘.
Dies war übrigens seiner Zeit auch der Standpunkt des Minoritätsgut-
achtens d. d. 31. Dezember 1870, welches der bairischen Abgeordneten-
kammer die Annahme der Verfassungsverträge empfahl — Beilagen zu den
Verh. der bair.K. d. A. BandIV. pag. 84. — und gerade auf dieser Schwäche
versuchte der Antrag Schüttinger fortzubauen.
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