Die einzelnen Bestimmungen der deutschen Reichsverfassung. 219
Wenn auch allen diesen Verhandlungen die Kraft einer
authentischen Interpretation im strengen Rechtssinne nicht
beigelegt werden kann, so konstatiren sie doch, dass die be-
theiligten Staatsregierungen bei dem Abschluss der Ver-
fassungsverträge und im Bundesrathe sich in derjenigen Auf-
fassung einigten, welche sich aus dem Wortlaute und deni Zu-
sammenhange des Alinea 2 ergiebt, dass ferner in den legis-
‚lativen Körperschaften entweder diese Auffassung bestätigt
oder ihr nicht widersprochen wurde oder doch dem erhobenen
Widerspruche eine rechtlich massgebende Geltung nicht ver-
schafft werden konnte. Die Verhandlungen unterstützen
durchaus das Ergebniss, dass der Grundsatz der Reichsver-
fassung, wonach soweit die Verfassung mit ihren Vorschriften
reicht, soweit auch die Gesetzgebung des Reiches fortbildend
und ändernd reicht, seine volle Anwendung auch auf das
Alinea 2 des Artikel 78 findet.
Ist dies richtig, dann kann auch der Akt der Gesetzgebung
des Reiches, dessen besondere Voraussetzungen und besondere
Formen ‚das Alinea 2 feststellt, an keine andern Erfordernisse
seiner Gültigkeit gebunden werden, als die Reichsverfassung
selbst vorschreibt. Jeder Versuch der Landesgesetzgebung
hier einzugreifen, widerspricht den Artikeln 2 und 5 der
Reichsverfassung. Wie gegenüber jeder Verfassungsänderung,
so ist auch gegenüber der des Aliena 2 ein Landesgesetz nich-
tig, welches die Gültigkeit der Verfassungsänderung über-
haupt oder für den Einzelstaat an die vorgängige oder nach-
trägliche Genehmigung der Partikulargesetzgebung bindet.
Und nicht minder verfassungswidrig ist es, wenn ein Landes-
gesetz das nach Reichsverfassung gültige Reichsgesetz als
Bruch eines Landesgesetzes qualifizirt, indem dasselbe die vor-
herige Genehmigung der Landesvertretung zu einer zustim-
menden Instruktion der Bundesrathsbevollmächtigten fordert
die Kammerverhandlungen vom 7. und 8. Februar 1872 in den Verhandlungen
der würt. K. d. A. 1870—72. Protokolle Bd. II. pag. 528. Bd. III. pag.
1349 ff. 1381 ff. 1. Beilageband. 2. Abth. pag. 593 ff.