274 S 16. Anwendung des Gesetzes. [178
Kodifikationen nur längst geltendes Gewohnheits- oder Ge-
setzesrecht schlechthin oder in erläuternder Weise wiederholen,
verfallen damit der Kategorie der „formellen Gesetze“.
Alleın so wahr es ist, dass ein Rechtssatz nicht mehr
thun kann als zu gelten, so ist doch die Annahme Selig-
mann’s ein voller Irrthum, als ob es logisch oder psycholo-
gisch unmöglich sei, dass ein bereits geltender Rechtssatz kraft
einer neuen autoritativen Willensbestimmung einen neuen Grund
seiner Geltung empfange. Das vielmehr ist gerade die Wir-
kung eines Gesetzes, welches einen bereits geltenden Rechts-
satz wiederholt, erläutert, detailirt, dass derselbe durch jenes
eine selbständige und unabgeleitete Geltung empfängt, voll-
kommen gleichgültig, ob die logischen Operationen, kraft de-
ren der Gesetzgeber selbst oder ein Anderer die Wiederholung,
Erläuterung oder Folgerung aussagen kann, richtig oder un-
richtig sind, vollkommen unabhängig davon, ob der Nachweis,
dass und wie und wo die fragliche gesetzliche Bestimmung
bereits in Geltung stand, gelingt oder misslingt. Diese, weil
unbedingte, darum novirende Kraft des Gesetzes ist es, welche
dasselbe in seiner rechtlichen Natur von der Vollzugsverord-
nung unterscheidet, welche seine Rechtssätze zu selbständigen,
vollen Rechtssätzen erhebt auch dann, wenn sein Inhalt den
Inhalt einer Vollzugsverordnung hätte bilden können.
Das ist denn auch der Grund, warum, wie Laband —
ib. I, pag. 617. 621 — in zutreffender Weise feststellt, Lan-
desgesetze, welche in einem Reichsgesetze enthaltene Rechts-
sätze wiederholen, bestätigen, erläutern oder detailiren, unstatt-
haft und wirkungslos sind, während partikuläre Vollzugsver-
ordnungen — selbstverständlich, soweit sich nicht auch diese
das Reich vorbehält — statthaft sind und die ihrer Natur
entsprechende rechtliche Wirkung haben. Denn die Gesetzes-
form ist die Form eines unbedingten staatlichen Willens,
welcher im Bereiche der ergangenen Reichsgesetzgebung die
Kompetenz der Einzelstaaten überschreitet, während jede Voll-
zugsverordnung sich selbst nur eine bedingte und abgeleitete
Geltung zuschreibt; sie will nur das, was kraft Reichsgesetzes